Wenn ich an meine verschiedenen Zivi-Einsätze denke, macht sich ein Grinsen auf meinem Gesicht breit. Verrückte Erlebnisse. Es sind nicht mehr viele Einsatztage, die ich noch hinter mich bringen muss, um mich von der staatlich auferlegten Dienstpflicht freizuarbeiten.
Ich hätte nie gedacht, dass mich das jemals wehmütig stimmen könnte.
Oft habe ich den Zivildienst als grosses Müssen wahrgenommen. Gedanken an alle anderen Dinge und Unterfangen, die ich Anstelle des Zivis gerade tun und erleben könnte, haben den Einsatzalltag begleitet. Kommt Zeit, kommt Rat. Oder Weitsicht.
Denn eigentlich ist der Zivildienst eine wunderbare Sache. Wo sonst kriegt man nach der schulischen Ausbildungslaufbahn einen so diversen Einblick in andere Lebensrealitäten und Tätigkeiten? Einblick in einen Querschnitt der Gesellschaft. Sowohl durch die Auswahl der Tätigkeit als auch im Austausch mit anderen zivildienstleistenden Menschen am Einsatzort. Weg von der Alltags- und Arbeitsbubble.
Eine vage Erinnerung. Die Namen ändere ich ab – einige Details vielleicht auch.
Ich stehe im Flachmoor. Das Wasser reicht mir bis zu den Knien und läuft mir ganz langsam, Stück für Stück durch die undichten Wachswaathosen in die Gummistiefel. Neben mir pickelt Albert am Ufer Brombeerstöcke aus. Im zivilen Leben studiert er Materialwissenschaften – spezialisiert sich gerade auf Kunststoffharz als Bausubstraat. Etwas weiter koppelt Benicio gerade den grossen Anhänger mit Werkzeugen und Grüngut an unser Einsatzfahrzeug. Er ist gelernter Automechaniker und fährt in seiner Freizeit gelegentlich illegale Autorennen. Sein ganzer Stolz: Ein VW Golf GTI 2, mit Lachgas-Einspritzung und einem eingebauten Turbo. Rauchend, am anderen Ende des Moorgrabens steht Finn und analysiert auf seinem Handy den aktuellen Goldpreis. Auch Pausen gehören dazu. Finn arbeitet bei einem bekannten Sicherheitsunternehmen, welches Geld, Edelmetalle und Wertpapiere transportiert. Zwischen Bankfilialen. Hin und Her.
Gregor ist krank. Im Flachmoor ist keine Spur von ihm zu finden. Wahrscheinlich liegt er zuhause im warmen Bett und schaut sich gerade Calisthenics-Videos an. Gregor ist im normalen Leben Personaltrainer und breit wie zwei von den alten Massivholzkomoden, welche die Kleider im Haus meiner Grossmutter beherbergten. Ich bewege mich in Richtung des Schilfgürtels, der geschnitten werden muss. Hinter dem Schilfgürtel erscheint Joseph, der kleine Waffennarr. In beiden Händen hält er zwei grosse Hartriegelsträuche, die er gerade gefällt hat. Joseph arbeitet als Landschaftsgärtner, würde jedoch lieber im Marketing eines Pistolenherstellers arbeiten. Er klärt uns regelmässig über Spezifikationen ausgewählter Kleinkalibermodelle auf.
In der Mittagspause spricht Benicio dann aus, was uns allen schon durch die Köpfe gegangen ist. Schmatzend, zwischen Bissen in sein Tankstellensandwich meint er: «Mit unseren verschiedenen Qualitäten wären wir als Team doch wie geschaffen für einen Überfall auf einen Geldtransporter.» Wir lachen. Albert steigt sofort in das Gedankenexperiment mit ein und erklärt euphorisch die mögliche Arbeitsteilung: «Du Finn, checkst die Routen des Transportes und die Sicherheitsspezifikationen ab. Zeiten, Abläufe, Mannschaft und die Panzerung. Du Albert mischst den besten Plastiksprengstoff zusammen, den du findest. Das muss ein richtig grosses Loch in den Laster reissen! Big Boom, wie in den Filmen. Gregor plündert die Goldpaletten. Der ist doch stark, oder? Ein Baren wiegt 12,4 Kilogramm, er füllt zwei Taschen pro Weg – 150 Kilogramm schafft der, oder? Der Rest trägt 60 Kilogramm pro Weg. Benicio fährt das Fluchtauto. Nichts zu Auffälliges, bitte. Lass deinen Golf zuhause, ok? Ich dachte an einen Maler-Sprinter.»
«Und was mache ich dann?», fragt Joseph leicht beleidigt. «Na du hältst den Transporter an vorderster Front an und lenkst Fahrer und Sicherheit mit deinem Pistolenarsenal ab», antwortet Albert. «Du musst aber schauen, dass du die dann auch fesselst.», fügt Benicio noch hinzu.
Welche Rolle mir zugeteilt wurde, weiss ich nicht mehr. Vielleicht die Buchhaltung? Hehlerei Schmelzofenbeschaffung?
Die spielerische Träumerei geht den ganzen Mittag so weiter. Nach und nach nehmen alle ihre Werkzeuge wieder in die Hände und machen sich an die Arbeit. Ohne dabei ein Wort zu wechseln. Manche hören beim Pickeln Podcasts, andere pfeiffen Melodien beim Schneiden und Stutzen. So ungleich gleich – alle hier im Zivi. Und manchmal entstehen dabei durch Zufälle lustige Gruppen. Natürlich würde kein Geldtransporter ausgeraubt werden. Höchstwahrscheinlich würden wir uns auch nach dem gemeinsamen Arbeitseinsatz nie wiedersehen. Dennoch finden alle für eine begrenzte Zeitdauer grossen Gefallen an den Anderen. An ihren Hintergründen, Tätigkeiten und Interessen. Auch davon zeugt Benicios Gedankenexperiment.
In meiner Bubble bin ich und bleibe ich meist. Sowohl im privaten als auch im beruflichen Leben. Klar werden mir von Zeit zu Zeit auch grössere, ausgedehntere Habitus-Radien zugänglich. Eine so willkürliche und wilde Durchmischung, wie es in gewissen Zivildienstbetrieben (oder dem Militär) jedoch gibt, gab es in meinem Leben selten. Ich spreche mit Freunden darüber; man ist sich einig: Trotz eines Muss-Systems und trotz der auferlegten Pflicht gelingt es im Zivildienst und, (oder im Militärdienst) abgesehen von der auszuübenden Tätigkeit, durch den so diversifizierten sozialen Kontakt, Kontexte zu einem Aussenraum des eigenen Seins zu bilden. Man lernt dazu – im Flachmoor.
30. März 2024