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Wenn du einen Moment hast, denk an Stephie 

Bald ist ihr 28. Geburtstag. Auf das Konzert, auf das sie sich so freute, kann sie jetzt womöglich nicht gehen. Stephie liegt seit vier Wochen im Koma. Im Urlaub wurde sie abrupt aus dem Leben gerissen. Es sind Schicksale wie dieses, die uns daran erinnern, wie schnell es vorbei sein kann und dass es uns selbst an den beschissensten Tagen eigentlich gut geht.

Von Janine Friedrich

Stephie war gerade die beste Version von sich selbst. Seit einigen Jahren hat sie ihr Leben zum Positiven verändert; hat viel Sport gemacht, sich gut ernährt und sich mega wohl in ihrem Körper gefühlt. Sie hat mehr Vertrauen entwickelt, sich immer wieder ihren Ängsten gestellt und ist voll aus sich herausgekommen. Sie hatte Spass am Leben, hat viel gelacht und viel unternommen. 

All die Jahre konnte Stephie nicht mit ihrem Freund in den Winterurlaub fahren, da sie nie frei bekam. Deshalb hat sie sich auch so unfassbar gefreut, als es dieses Jahr zum ersten Mal geklappt hat. Ihr grosser Wunsch war es, endlich besser Snowboardfahren zu lernen. Stephie nahm sich vor, es einfach zu geniessen und sich nicht zu ärgern, wenn sie es noch nicht so gut konnte, wie fortgeschrittene Snowboarder:innen. Hauptsache, es machte ihr Spass. Und das machte es! Schon nach dem ersten Tag auf der Piste hat ihr Freund in ihren Augen gesehen, wie glücklich sie war. Stephie hat übers ganze Gesicht gestrahlt. Sie war einfach so dankbar, mit dabei zu sein und freute sich schon auf den nächsten Tag. 

An diesem nächsten Tag stürzt Stephie beim Snowboarden sehr unglücklich auf den Kopf. Helm sei Dank schien zunächst alles nur auf eine Hirnerschütterung hinzudeuten. Sie war bei Bewusstsein, hatte jedoch starke Kopfschmerzen und musste sich übergeben. Der Krankenwagen brachte sie ins Spital. Zur Sicherheit wollten die Ärzt:innen sie für eine Nacht drin behalten. Doch alles kam anders. Während ihr Freund einige ihrer Sachen aus dem Hotel holte, nachdem beide sich mit einem «Bis gleich»  verabschiedeten, wurden bei Stephie mittels MRT plötzliche Hirnblutungen festgestellt. Sie wurde in ein anderes Spital transportiert, wo sie direkt notoperiert wurde. Bereits auf dem Weg dorthin stieg ihr Hirndruck so rasant an, dass sie das Bewusstsein verlor. Die OP hat sie gut überstanden. Am Tag darauf hatte Stephie jedoch wieder Hirnblutungen und ihre Schädeldecke musste erneut geöffnet werden – dieses Mal lagen ihre Überlebenschancen für die Notoperation nur noch bei 5 Prozent. Auch diese OP hat sie überstanden.

All das erzählt mir Kristin, eine meiner engsten Freundinnen, als wir kurz nach Stephies Unfall bis spät in die Nacht telefonieren. Die beiden kennen sich schon lange und sind sehr gut miteinander befreundet. 

«Das zeigt einem, wie schnell man einfach nicht mehr da sein kann. Und das zeigt einem jetzt nicht, dass man mehr aufpassen sollte, weil immer etwas passieren kann. Im Gegenteil; man soll sein Leben leben, ohne sich dabei von Angst leiten zu lassen. Lieber für irgendetwas sterben, das man liebt, als einfach nur überleben. Und was es einem auch zeigt, ist, dass man einfach jeden verdammten Tag geniessen sollte. Man kann schon dankbar dafür sein, dass man laufen kann und dass man, wenn man Hunger hat, sich was zum Essen machen kann. Und streiten, sich Sorgen machen oder schlecht gelaunt sein – all das ist einfach so ein Quatsch. Ich weiss, wir Menschen kriegen das nicht immer hin, aber es ist so wichtig, sich das immer wieder vor Augen zu führen. Denn jeder Tag kann wirklich der letzte sein und das checkt man manchmal nicht. Deshalb muss man wirklich danach leben oder es zumindest immer wieder versuchen», sagt sie.

Wir sind beide mega emotional und alle aktuellen, scheinbaren Probleme lösen sich plötzlich in pures Nichts auf. Denn wir alle hätten Stephie sein können. Wie schnell es tatsächlich vorbei sein kann, ist uns meist nicht bewusst genug. Dieses Bewusstsein darüber soll auch keine Angst schüren, sondern uns eher motivieren und inspirieren, wirklich unsere Träume zu verfolgen und das Leben zu leben, auszukosten und zu spüren. So oft wir können.

Als Stephie einige Zeit später stabil war, wurde sie in ein Spital in ihrer Heimatstadt verlegt. Der Versuch, sie aus dem künstlichen Koma zu holen, missglückte leider. Während das Narkosemittel schrittweise reduziert wurde, fiel sie ins richtige Koma. Reflexe zeigt sie keine, atmet jedoch ein- bis zweimal die Minute selbstständig, weswegen der Hirntod ausgeschlossen werden konnte. Die Tests ergaben jedoch, dass Stephie sehr schwere Schäden am Gross- und Stammhirn erlitten hat. Daher lautet die Prognose, dass sie nicht wieder aufwachen wird und ohne Maschinen nicht selbstständig überlebt. Die schwierigste Entscheidung – wie es weitergeht – mussten nun ihr Freund und ihre Familie treffen: Stephie bekommt einen Luftröhrenschnitt und wird mittels Sonden künstlich ernährt. Für ein Jahr bekommt sie jetzt einen Platz auf einer Intensivpflegestation, wo Familie und Freund:innen sie besuchen und gegebenenfalls Abschied nehmen können. Nach diesem Jahr wird erneut entschieden, wie es weiter geht. Auch wenn die Prognose schlecht aussieht, hoffen alle auf ein grosses Wunder. Eine Hoffnung, die in so einer Situation Kraft und Glauben schenkt. Stephies Freund und ihre Freund:innen treffen sich jetzt einmal die Woche, um zu reden, um füreinander da zu sein, um gemeinsam zu lachen und zu weinen, und um einfach etwas Normalität in diese Ungewissheit zu integrieren.

Keine:r von uns weiss, wann es vorbei ist. Auch Stephie hätte nicht gedacht, dass sie vielleicht nur 27 wird. Sie hat gedacht, dass das Leben noch ganz lang weiter geht und noch ganz viel Schönes zu bieten hat. Ihr Leben war gerade auf dem Höhepunkt und sie hatte so viele Pläne für die Zukunft. Doch manchmal kommt eben alles anders, das ist ein Teil des Lebens. Und gerade weil solche Schicksalsschläge jede:n treffen können, dürfen wir weiterhin ganz fest daran glauben, dass es das Leben gut mit uns meint und es noch lange weiter geht. Wir dürfen, so wie Stephie es tat, daran glauben, dass das Leben noch ganz viel für uns bereithält. Wir dürfen uns das Beste für unsere Zukunft ausmalen und Pläne schmieden. Und wir dürfen an Wunder glauben. Wir sollten sogar.

Deshalb, wenn du einen schlechten Tag hast, denk an Stephie und erinnere dich mal eben daran, dass alles gar nicht so schlimm ist. Dass es dir gut geht und du für so viele Dinge, die oft selbstverständlich erscheinen, dankbar sein kannst. Und wenn du einen guten Tag hast, denk an Stephie und schick ihr gute Energie. Und denk nicht nur an Stephie, sondern auch an alle Menschen, die dir etwas bedeuten und auch an alle Menschen, die du gar nicht kennst und denen es wirklich nicht gut geht.

Update: Am 12. Mai 2023 kurz nach elf Uhr, ist Stephie im jungen Alter von 28 Jahren gestorben. Nach zwei schweren und doch hoffnungsvollen Monaten und einigen Therapieversuchen im Koma, ergaben Untersuchungen schliesslich, dass ihr Gehirn so stark beschädigt ist, dass sie ohne Maschinen nicht lebensfähig ist und auch nicht mehr aufwachen wird. Ihre Familie und ihr Freund entschieden sich, die Maschinen abzustellen und Stephie gehen zu lassen. Familie, Freund und Freund:innen konnten sich in Ruhe verabschieden. Möge sie in Frieden ruhen. Und mögen wir alle trotzdem weiterhin, wie Stephie es immer tat, an Wunder und an das Leben glauben!

13. März 2023

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