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Unrecht geschieht so nah – im Kanton Zürich

Wie leben abgewiesene Asylsuchende in der Schweiz? Eine Frage, die uns alle etwas angeht. Denn die Missstände in unmittelbarer Umgebung fordern unsere Aufmerksamkeit. Immer wieder suchen Menschen aufgrund von politischer oder existenzieller Not in ihrem Heimatland Zuflucht in der Schweiz. Nicht allen wird Asyl oder die vorläufige Aufnahme gewährt. Viele sind mit der Ablehnung in der Nothilfe gefangen. Wir haben mit Hanna Gerig von der Solinetz-Geschäftsstelle gesprochen.

Von Janine Friedrich

Im Kanton Zürich leben aktuell 628 Personen in der Nothilfe. Einige von ihnen schon seit vielen Jahren. Wobei von «leben» in den abgelegenen und teils unterirdischen Zentren mit menschenunwürdigen Bedingungen und Zwangsmassnahmen wohl kaum die Rede sein kann. Doch durch verschiedene Gründe – Krieg im Herkunftsland, manchen droht sogar Verfolgung, Inhaftierung oder Folter – sind sie gezwungen, hier zu bleiben. 

Der gemeinnützige Zürcher Verein Solinetz setzt sich seit 2009 mit verschiedenen Projekten für die Würde und Rechte dieser Menschen ein. Letztes Jahr wurde zum Beispiel das «Projekt Kombi» ins Leben gerufen: Ein Projekt mit und für abgewiesene Asylsuchende, die von der Nothilfe betroffen sind. Ende Januar knackte Solinetz durch Crowdfunding das 30’000-Franken-Ziel. Die Monatsabonnements für die Nothilfe-Betroffenen sind somit gesichert. So können sie wenigstens aus der Isolation ausbrechen und müssen sich nicht entscheiden, ob sie von den täglichen 8.50 Franken Essen oder ÖV-Tickets kaufen. Nun braucht es noch 30 Freiwillige bis zum 1. März, um den zweiten Durchlauf zu starten. Aus aktuellem Anlass sprachen wir mit Hanna Gerig von der Solinetz-Geschäftsstelle.

Kannst du mit deinen Worten zusammenfassen, wie das «Projekt Kombi» entstanden ist?

Hanna Gerig: Wir sind schon seit vielen Jahren in Kontakt mit Nothilfeempfänger:innen und unterstützen sie mit Deutschkursen, ÖV-Tickets, 1:1-Tandemprojekten und vielem mehr. Bei der Eins-zu-Eins Begleitung von Menschen mit Fluchthintergrund durch ansässige Freiwillige merkten wir jedoch immer wieder, dass die freiwilligen Personen oft überfordert waren. Sei es bezüglich rechtlicher Fragen oder aufgrund der schwierigen Lage, in der sich einige abgewiesene Asylsuchende befanden. Die Freiwilligen wollten ihren Tandempartner:innen in solchen misslichen Situationen helfen, doch wussten nicht wie. Das kann schnell zur Belastung werden und damit ist am Ende niemandem geholfen, eher im Gegenteil; denn es gefährdet das Engagement. Also war klar: Auch die Freiwilligen dürfen nicht alleine gelassen werden. Mit dem «Projekt Kombi» haben wir dann die erkannten Lücken geschlossen und alle Unterstützungsformen, die sich bereits bei uns bewährt haben, zu einem grossen Ganzen kombiniert: Tandem plus Tickets plus Bildung plus Gemeinschaft und so weiter. Durch gezielte Informationsvermittlung soll das «Projekt Kombi» auch einem Gefühl der Überforderung und Ohnmacht entgegenwirken. Die Teilnehmenden können sich untereinander austauschen und lernen von juristischen Fachpersonen, welche Lösungen es für schwierige aber durchaus typische Fälle gibt.

Neben Gemeinschaft und Bildung steht auch das «Auge der Öffentlichkeit» im Vordergrund. Was braucht es deiner Meinung nach, damit die Gesellschaft mehr hin- anstatt wegschaut?  

Wir müssen uns vor Augen führen, dass Schlimmes nicht nur anderswo passiert; es ist grosses Unrecht, das Menschen im Kanton Zürich widerfährt! Ich glaube, dass da noch Empörungspotenzial brach liegt, wenn mehr Menschen Bescheid wüssten. Zum Teil wissen nicht einmal die Einwohner:innen der gleichen Gemeinde, dass es da ein Camp gibt, wo Menschen täglich Angst vor Verhaftungen haben, wo Kinder traumatisiert werden durch Polizeieinsätze morgens um fünf, wo Gewalt vorkommt bei Ausschaffungs- und Verhaftungsversuchen, wo miserable Wohnverhältnisse herrschen und wo Menschen leben, die sich kein Brot leisten können, wenn sie sich ein ÖV-Ticket kaufen müssen. Viele haben keine Vorstellung davon, dass das in der Schweiz eine Realität ist. Von dem her geht die offizielle Politik schon auf…

Also, dass genau diese Isolation und Perspektivlosigkeit für die Menschen, die abgewiesen wurden, bezweckt werden soll?

Ja. Das Schwierige ist halt, wenn man für ein besseres Leben dieser Menschen kämpft, dann argumentieren viele damit, dass diese wegen dem negativen Asylbescheid ja gehen müssten und somit selber schuld sind, wenn sie noch hier sind. Das Label «illegal» haftet an ihnen. Doch so einfach ist es nicht. Ein Satz reicht nicht, um zu erklären, weshalb es durchaus gute Gründe gibt, warum abgewiesene Asylsuchende noch hier sind. Das macht es schwieriger, für diese Menschen zu lobbyieren.

Seit dem verheerenden Entscheid vom Bundesverwaltungsgericht, dass Militärdienstverweigerung kein Asylgrund mehr ist, bekommen auch immer mehr Eritreer:innen einen Negativbescheid, bleiben aber aus verschiedenen Gründen hier.

Vor mehr als zehn Jahren haben Eritreer:innen noch fast alle eine B-Bewilligung erhalten. Doch mit der Abweisung sind auch sie im Nothilfesystem gefangen, dürfen nichts tun, aber bleiben eben hier. Und in Bezug auf Eritrea ist die Situation auch absurd, weil alle Beteiligten wissen, dass sie bleiben werden. Es gibt keine Eritreer:innen, die zurück gehen. Die Unsicherheit, was geschieht, wenn sie zurückgehen würden, ist viel zu gross. Einzelne, die es probiert haben, kamen ins Gefängnis oder wurden gefoltert. Sie sind also hier, sie werden hier bleiben, sie lernen Deutsch, sie wollen arbeiten, sie wollen Geld verdienen, doch sie dürfen einfach nicht. Damit ist niemandem gedient. Für uns ist es deshalb wichtig, jede Aufmerksamkeit, die wir bekommen, anzunehmen und auch den ständigen Kampf darum aufrechtzuerhalten. 

Bei der ersten Durchführung von «Projekt Kombi» im letzten Jahr habt ihr gemerkt, dass ihr etwas bewegen konntet. Welche grossen oder kleinen Erfolge gab es?

Jedes Tandem, das innerhalb des Projekts gebildet wurde, war erstmal ein Erfolg für sich. Es entstanden so viele schöne Begegnungen. Viele Kontakte sind geblieben. Die Teilnehmenden aus der Nothilfe merkten, dass sie nicht alleine sind und dass es Menschen gibt, die sich für ihr Schicksal interessieren. Und die ÖV-Tickets waren natürlich mega beliebt. Vieles, was unerreichbar schien, war plötzlich möglich. Bei den Gruppenabenden war es schön, diese solidarische Gemeinschaft zu spüren.

Letztes Jahr gab es bei Kombi über 40 Teilnehmende auf beiden Seiten. Wie ist es dieses Jahr?

Wir haben uns jetzt das Ziel von 30 Freiwilligen gesetzt, die wir bis zum Projektstart am 1. März zusammenkriegen wollen. Interessierte Nothilfe-Betroffene zu finden ist einfacher, von ihnen leben zwischen 600 und 1000 im Kanton Zürich. Doch da wir ein 1:1 Verhältnis schaffen möchten, braucht es eben auch genügend Menschen, die ihre Zeit und Unterstützung anbieten. Und das ist jetzt die grosse Herausforderung. Ich weiss noch nicht, ob wir das schaffen. Und das sage ich, obwohl sich letztes Jahr so viele angemeldet haben. Oft ist es ja so, dass sobald etwas nicht mehr neu ist, es auch nicht mehr so interessant scheint. Doch die Arbeit ist mit einem Durchlauf noch lange nicht getan. Wer also gerne etwas gegen den Ausschluss von Menschen aus unserer Gesellschaft tun möchte, kann sich direkt über das Online-Formular anmelden.

Gibt es etwas, das wir alle tun können, abgesehen von der Teilnahme am «Projekt Kombi»? 

Das sind immer die Standardantworten, aber sie sind eben immer gültig. Das Wichtigste ist erstmal sich zu informieren, Interesse zu zeigen. Wie leben abgewiesene Asylsuchende in der Schweiz? Mit anderen Menschen darüber reden, das Wissen teilen. Danach gibt es viele weitere Möglichkeiten zu helfen, etwa durch das direkte Mensch-zu-Mensch-Engagement innerhalb verschiedener Projekte oder die ehrenamtliche Mitarbeit in Vereinen wie Solinetz, der Eritreische Medienbund Schweiz, die Autonome Schule Zürich, das Bündnis «Wo Unrecht zu Recht wird». Auch die politische Arbeit in einer Partei oder ausserparlamentarisch ist sehr wertvoll. Oder man schreibt direkt Briefe oder Mails an Politiker:innen und schildert ein bestimmtes Anliegen.

Ihr sucht auch immer wieder Privatunterkunftmöglichkeiten.

Ja, das ist dann schon eine grössere Sache. Wir haben bei der Ankunft der Menschen aus der Ukraine gemerkt, dass es sehr viele Leute gibt, die Wohnraum haben und ihn auch gerne für eine Zeit teilen. Oft gibt es auch Wohnsituationen, wo die Bewohner:innen kaum zuhause sind und diesen gern während ihrer Abwesenheit jemandem überlassen. Es gibt viele Nothilfe-Betroffene, denen es zum Beispiel durch das Leben tagsüber im Bunker so schlecht geht, dass sie den Wunsch haben, sich einfach mal ein paar Wochen in einem normalen Zimmer mit Tageslicht und Privatsphäre erholen zu können. Und manchmal könnte die Erfüllung eines solchen Wunsches viel einfacher sein als gedacht. Die Menschen müssen eben nur Bescheid wissen.

17. Februar 2023

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