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Jungfräulichkeit im Erwachsenenalter

Wir alle waren es einmal oder sind es vielleicht noch immer: sexuell unberührt. 
In der Gesellschaft bezeichnet man dies, ganz egal ob für Mann, Frau or inbetween, als «Jungfrau». Ob die Jungfräulichkeit nun ein kulturelles oder gesellschaftliches Konzept ist, sei nun so dahingestellt. Wenn man aber fragt, ob jemand noch Jungfrau sei, wissen wir wohl alle, was damit gemeint ist.

Von Michèl Kessler

Wahrscheinlich erinnern sich die meisten, die bereits sexuelle Erfahrungen gesammelt haben, noch an ihr erstes Mal. Insbesondere durch die Medien wird gerne das Bild vermittelt, dass die Gesellschaft schon im frühen Alter sexuell aktiv sei. Ganz aktuelle Umfragen existieren zwar nicht, schaut man aber verschiedene Befragungen aus den letzten Jahren an, hat die Hälfte der 17-Jährigen noch keinen Geschlechtsverkehr gehabt. Junge Männer dieses Alters geben mit 55 % tendenziell eher an, schon einmal Sex gehabt zu haben als junge Frauen (45 %). Das durchschnittliche Alter beim ersten Mal liegt bei circa 16 Jahren, allerdings müssen solche Mittelwerte immer ein wenig kritisch betrachtet werden, da Frühreife wie auch Spätzünder dieses Ergebnis stark beeinflussen können. 

Trotzdem; es herrscht in unserer Gesellschaft die Annahme, dass schon früh die ersten sexuellen Erfahrungen gesammelt werden müssen, um mitreden zu können. Nicht umsonst gilt Sex als «die schönste Nebensache der Welt». 

Doch wie sieht es aus, wenn man 23 ist und noch nie Sex hatte? Oder sogar 26? Steigt die sogenannte Torschlusspanik? Und wie wird man von der Gesellschaft wahrgenommen? In einem anonymen Gespräch mit einer jungen Frau, welche noch nie Sex hatte, bekomme ich Antwort.

Annahmen und Vorurteile zur Jungfräulichkeit

«In meiner Familie wurde eigentlich nie offen über Sex gesprochen, das war eher ein Tabuthema», erzählt mir mein Gegenüber. Dies sei aber keineswegs der Grund, warum sie bis heute, mit 23, noch keinen Sex hatte. Sie räumt schnell die gängigen Vorurteile aus dem Weg:

«Nein, ich bin nicht streng religiös. Ich bin auch nicht prüde. Und dass mich keiner wollen würde, ist auch nicht der Fall», hält sie fest. Eigentlich ist sogar genau das Gegenteil der Fall; die junge Frau ist seit fast drei Jahren glücklich vergeben. 

Während ihre Freund:innen schon im Teenie-Alter die ersten sexuellen Erfahrungen sammelten, fokussierte sie sich lieber ganz auf sich selbst. Schule, Familie und Freunde standen während dieser Lebensphase zusammen mit der eigenen Entwicklung im Vordergrund. 

Als sie dann ihr 18. Lebensjahr erreichte, und damit auch mehr Freiheiten vom Elternhaus aus geniessen konnte, veränderte sich aber etwas. Während das eigene Umfeld vorher von vor allem peinlichen, unangenehmen, wenn nicht sogar negativen Erfahrungen aus dem Sexleben berichteten, wurden die Erzählungen mit der Zeit immer positiver. Die Freund:innen der jungen Frau entdeckten die eigene Sexualität, probierten sich aus und teilten ihre Geschichten auch gerne in intimen Gesprächen. Mit dieser Veränderung wurde auch ein gewisser Druck, gepaart mit einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung, spürbar. «Ich war schon immer in allem ein Spätzünder. Da habe ich mich schon ab und zu gefragt, ob alles richtig sei», erzählt sie.

Dieser spürbare Druck kam aber keinesfalls aus ihrem eigenen Umfeld. Ihre Freund:innen hatten alle Verständnis für sie, wie auch sie Verständnis aufbrachte, wenn ihr Freund:innen nicht genug von sexuellen Erfahrungen sammeln konnten. Der Reiz war aber trotzdem da. Schliesslich verspüre auch sie die menschlichen Triebe, sagt sie. Mit einem sexuellen Verlangen war dies aber nicht gleichzusetzen und sie entschied sich bewusst dazu, dass sie sich nun nicht mit dem Nächstbesten zufriedengeben würde, sondern einfach mal abwarten wollte. Während der Freundeskreis von wilden Geschichten schwärmte, machte sie sich fleissig Notizen im Kopf und merkte sich, was Freund:innen gut fanden und was Spass macht. Trotzdem: «Wenn du etwas noch nie gemacht hast, dann vermisst du es auch nicht», erläutert sie im Gespräch.«Ich glaube, ganz viele verstanden einfach nicht wirklich, dass ich eigentlich sehr offen war und auch gerne über Sex sprach, auch wenn ich selbst noch keine Erfahrungen machen wollte».

Erwartungshaltung

Obschon sie vom eigenen Umfeld keinerlei Druck verspürte, nervte sich die junge Frau mit zunehmendem Alter über die konstante Annahme, dass jede Person über 20 bereits Sex gehabt haben muss. In Gesprächen und auf Dates wurde davon ausgegangen, dass Sex dazugehören würde und man sich bis zu diesem Alter auch schon vollständig sexuell entfaltet hätte. Die Medien machten dies nicht besser; Sex ist in unserer Kultur so allgegenwärtig, dass es schwer ist, sich nicht zu diesem Thema zu äussern. Gleichzeitig gab es in ihrem Umfeld eine starke Diskrepanz; während die Familie davon ausging, dass Sex sowieso noch kein Thema sei, war bei Gleichaltrigen genau das Gegenteil der Fall. Diese gegensätzliche Erwartungshaltung macht ihr schon zu schaffen, gesteht sie.

Während die junge Frau trotzdem offen blieb und versuchte, sich die gesellschaftlichen Erwartungen nicht zu Herzen zu nehmen, veränderte sich abermals etwas, als sich langsam eine Beziehung zu ihrem jetzigen Freund entwickelte. Ich fragte sie, ob sie nicht Angst gehabt hätte, dass der bisherige Verzicht auf Sex zu Beziehungsproblemen führen könnte: «Natürlich! Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, vor allem am Anfang. Ich hatte auch Angst, dass er es sich von jemand anderem holen könnte. Diese Ängste waren aber immer nur in meinem Kopf – er hat mir nie das Gefühl gegeben, ich müsste nun eine Entscheidung treffen.» 

Da auch ihr Freund noch nicht unglaublich viele sexuelle Erfahrungen gesammelt hatte, entschieden sie zusammen, solange zu warten, bis es sich für beide richtig anfühlen würde.

«Schlussendlich sehen und wollen wir eine schöne gemeinsame Zukunft. Da kommt es auf diese paar Jahre nun auch nicht mehr darauf an.»

«Sex gehört zur Beziehung!»

Weiter erzählt mir mein Gegenüber im Gespräch, dass sie natürlich verstehen würde, dass Sex für viele Menschen sicher etwas unglaublich Wichtiges in der Beziehung sei. Für sie hat sich aber bis anhin noch nicht der Zeitpunkt ergeben, dass es sich richtig angefühlt hätte. Sie sei sich zwar sicher, dass sie nach diesem Schritt noch besser nachvollziehen könne, warum denn alle immer von Sex sprechen würden, sie aber einfach noch warten will. Die körperliche Nähe und eine intime Verbundenheit verspüren und geniessen nämlich auch sie und ihr Freund, betont sie. Zudem sei auch dieses Knistern, ein inniges Verlangen und die sexuelle Anziehung vorhanden, was auch für beide eine Voraussetzung für die Beziehung war.

Weiter ergänzt sie im Gespräch mit einem Lächeln, dass «Vorfreude doch sowieso die schönste Freude ist».

Abschliessend will ich trotzdem noch von ihr wissen, wie sie sich denn diesen richtigen Zeitpunkt ausmalen würde und wie da ihre Erwartungen aussehen. Eine klare Antwort kann sie mir nicht geben, allerdings kann sie mir sagen, dass die zunehmende Zweisamkeit sicher ein richtiger Schritt in diese Richtung sei. Zum momentanen Zeitpunkt wohnen die beiden noch nicht zusammen, sondern bei den Eltern. Ein erstes gemeinsames Eigenreich würde vielleicht schon etwas ändern, sie will sich aber auch da nicht festlegen.

Dass sie nun mit dem sexuellen Akt warten würde, sei ihre individuelle Entscheidung. Ihren zukünftigen Kindern würde sie niemals vorgeben, dass diese das genauso machen müssten wie sie. Trotzdem sieht sie auch verschiedene Vorteile, welche ihr diese Entscheidung gebracht haben. Während Freund:innen negative Erfahrungen gemacht hätten in der Jugend und diese auch teilweise fast schon traumatische Spätfolgen mit sich gezogen haben, konnte sie sich immer auf sich selbst konzentrieren. 

Schlussendlich betont sie nochmals, dass es echt wichtig sei, sich gegenseitig mit Respekt zu begegnen und sich auch für die individuelle Bestimmung der eigenen Sexualität zu öffnen. Sie sieht aber auch, dass die Gesellschaft auf einem guten Weg sei, wenn es darum gehe, verschiedenste Arten des sexuellen Auslebens zu respektieren. Auch wenn das heissen mag, dass jemand bis anhin noch keinen Sex hatte, obwohl man dies vielleicht annehmen würde. 

Versexte Neuzeit

Hätte ich dieses Gespräch vor 50 Jahren geführt, wäre die Thematik wahrscheinlich genau umgekehrt gewesen. Es ist gar nicht so lange her, da war Sex noch ein Tabuthema und das Ausleben der eigenen Sexualität vor der Ehe, vor allem bei der Frau, verpönt. In anderen Kulturkreisen ist dies nach wie vor der Fall. Auch in den frühen 2000er war die Jungfräulichkeit en vogue: Mit dem trendigen «Purity Ring» zeigte man, dass man bis zur Ehe mit Sex warten will. 

Heute sieht das, zumindest bei uns, ein bisschen anders aus. Man könnte fast schon meinen, dass wir von einem Extrem ins nächste gewechselt haben.
Auch nach diesem Gespräch ist mir nochmals klar geworden, wie viele Erwartungen, Annahmen und Druck in unserer Gesellschaft gelten, wenn es um das Thema Sex geht. Wie auch meine Gesprächspartnerin betont hat, ist es wichtig, dass man sich gegenseitig mit einer ordentlichen Portion Offenheit begegnet und die Grenzen des Gegenübers respektiert.

Individuelle Wahrnehmung

Im Rahmen dieses Artikels habe ich auch noch mit zwei weiteren Personen gesprochen, welche bis anhin noch keine sexuellen Erfahrungen gesammelt haben. Auch dabei ist mir klar geworden, wie individuell diese Thematik wahrgenommen wird und die Selbstsicherheit von meiner Interviewpartnerin keineswegs die Normalität widerspiegelt. Der gesellschaftliche Druck rund ums Thema Sex macht anderen Individuen viel mehr zu schaffen, als dass man vielleicht annehmen würde:

Mann, (25): «Ich bin ehrlich: Ich schäme mich dafür. Von meinen Freunden weiss fast niemand, dass ich noch Jungfrau bin. Ich habe auch Angst, einer potenziellen Sexualpartnerin von meinen fehlenden Erfahrungen zu beichten. Ich mache mir da schon recht Druck.»

Frau, (24): «Für mich hat es sich einfach auch noch nicht ergeben. Bei mir meinen immer alle, dass irgendetwas nicht stimmen würde oder ich asexuell sei. Chillt mal, ich will einfach nur warten, würde ich da manchmal am liebsten sagen!»

Zudem haben mir auch mehrere Personen eine Absage gegeben, als ich mit ihnen über diese Thematik sprechen wollte. Es scheint fast so, als ob doch noch ein grosses Schamgefühl bestehen würde, wenn es um das Thema Sex geht – obschon in der Gesellschaft ein gegensätzliches Bild gezeigt wird. 

Abschliessend kann festgehalten werden, dass man bei solch einer intimen Angelegenheit auf sich selbst hören muss und sich keinesfalls unter Druck setzen lassen soll. Your body, your choice!

28. Februar 2022

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