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Mental Health: Traumabewältigung

Was tun, wenn einem so etwas Schlimmes im Leben widerfahren ist, dass man selbst nicht darüber sprechen kann? In einem anonymen Interview haben wir von einer Survivorin erfahren, mit welcher alternativen Therapiemethode sie ihre Traumata zu bewältigen versucht.

Von Michèl Kessler

Trigger-Warnung: Im folgenden Artikel geht es um sexuellen Missbrauch, Traumabewältigung, Suizidgedanken, Depressionen und Essstörung.

«Eigentlich hab ich am Anfang gar nie wirklich verstanden, dass das, was mir sieben Jahre lang widerfahren ist, irgendwie nicht okay wäre oder so», erzählt mir die junge Frau gegenüber. Dass es sich dabei um sexuellen Missbrauch handelte, der von zwei individuellen Männer immer als «grosses Geheimnis unter uns» verkauft wurde, nahm sie erst Jahre später bewusst wahr.

Die taffe Frau hält tiefen Augenkontakt, während sie mir von den schrecklichsten Jahren ihres Lebens erzählt. Horrorszenarien, die man noch nicht mal verfilmen könnte, so schlimm sind sie. Und trotzdem: Keine zittrige Stimme, kein nervöses Wippen mit dem Knie, kein leeres Schlucken. Nur die roten Flecken, die sich langsam während unseres Gesprächs auf ihrem Hals bilden, lassen erahnen, dass es wohl lange gedauert hat, bis sie so offen über diese traumatische Zeit sprechen kann.

Traumata und ihre Wurzeln

Wahrscheinlich würde wohl jede:r von uns sagen, dass man im Leben bereits traumatische Situationen erlebt hat. 

Einmalig belastende, sogenannte monotraumatische Ereignisse, wie zum Beispiel einen Unfall ohne grosse Folgen oder der vorhersehbare Verlust einer Bezugsperson haben oft nicht so komplexe Auswirkungen auf die Psyche, wie regelmässige Kindesmisshandlung, häusliche Gewalt oder sexueller Missbrauch. 

Ursprünglich kommt das Wort «Trauma»  aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie «Wunde» oder «Verwundung». Dabei kann der Begriff für psychische, wie auch physische Verletzungen gebraucht werden. In der Alltagssprache verwendet man die Bezeichnung jedoch vermehrt für die Beschreibung von einem seelischen, mentalen oder psychischen Leiden. 

Dieser Artikel soll dazu beitragen, dass Tabus rund ums Thema Traumata und deren Bewältigung entstigmatisiert werden. Letztlich ist ein Trauma nämlich eine «normale» Reaktion auf eine höchst «unnormale» Situation.

Traumatisierungen in frühen Jahren – besonders durch andere Menschen verursacht – können massive Auswirkungen auf die Entwicklung haben. So erging es auch meiner Interviewpartnerin: «Ich war schon immer eher scheu und hatte nicht so viele Freunde, vor allem als Kind nicht. In der Primarschule wurde ich gemobbt. Da war so ein «Geheimnis» irgendwie speziell und während ich zwar psychisch fast schon hinterhältig zerfetzt wurde, war es nie physische Gewalt. Bei beiden nicht. Vielleicht hat es sich auch daher am Anfang nie falsch angefühlt.»

Hinterhältig beschreibt die Vorgehensweise der Täter ziemlich gut. So war es zum einen ein selbst noch minderjähriger, jedoch deutlich älterer Junge aus dem Dorf, der das Mädchen sexuell missbraucht hat. Zeitgleich verging sich auch der sehr viel ältere Nachbar, er war um die 70, an dem Mädchen. Sie und ihr jüngerer Bruder wurden regelmässig beim Nachbarn in Obhut gebracht, als ihre Eltern arbeiten mussten. Manchmal schliefen sie sogar da. Vielleicht war es ein tragischer Zufall, dass die Täter unterschiedlich alt waren. Dieser führte dazu, dass die an ihr vergangenen Taten für das Mädchen lange als «normal» galten. Sie lacht trocken: «Ich fand es fast irgendwie komisch, dass mein Vater nicht das Gleiche machte.»

Fehlende Aufklärung und versäumtes Handeln

Das Unbehagen und die Realisation dieses Grauens kam nur schleichend. Spätestens mit 12, 13 Jahren drang der jahrelange Missbrauch und die Folgen davon aus ihrem Unterbewusstsein an die Oberfläche. Erst, als die Jahre des Missbrauchs ein langsames Ende nahmen, kam die Realisation. Mittlerweile war sie alt genug, um alleine im Elternhaus bleiben zu können und so nahmen die Besuche beim Nachbarn langsam ab. Wie ein Zuhause fühlte es sich aber trotzdem nie an: Während sie in den eigenen vier Wänden des Missbrauchs bewahrt wurde, suchte der jüngere Täter das Mädchen in der Nacht auf und stand vor ihrem Fenster, als sie im Zimmer war. Die Belästigung und das Stalking hörten erst auf, als der Täter volljährig wurde und das Dorf verliess.

In der Oberstufe fand die Teenagerin Freund:innen. Sie hatte Menschen in ihrem Leben, mit denen sie reden konnte. Ihre schlimmen Erfahrungen blieben aber ein Geheimnis. Durch den vertrauten Austausch mit Gleichaltrigen machte sich aber auch die schlimme Realisation breit, dass das, was ihr während den letzten Jahre widerfahren ist, alles andere als normal war. «Sexualkunde hatten wir glaub in der letzten Sek dann. Da war alles schon durch. Über sexuellen Missbrauch wurde sowieso nicht gesprochen. Meine Eltern haben mich auch nicht aufgeklärt. Ich hab wirklich erst richtig gecheckt, was los war, als ich Freund:innen gefunden habe. Und auch da war es eher schleichend.»

Grund zur Sorge gab es aber eigentlich schon vorher: «Mit 11 wurde ich zu einer Kinderpsychologin geschickt, weil ich Mühe hatte, mich zu sozialisieren. Sie hat ziemlich sicher geahnt, was los war. Sie ging aber die ganze Zeit davon aus, es sei mein Vater». So wirklich etwas gesagt habe sie aber nicht. Bis heute nicht. Auf eine Anzeige bei der Polizei verzichtet sie, da es für sie zu schlimm wäre, alles noch einmal durchleben zu müssen. Zudem hat im selben Dorf eine Gleichaltrige gegen den jüngeren Täter eine Anzeige erstattet, die nach kürzester Zeit aber wieder zurückgezogen wurde. Das habe ihr genug gezeigt.

Düstere Folgen

Obwohl die junge Frau mit diesem grauenhaften Kapitel scheinbar abgeschlossen hat, machten sich die Folgen des Missbrauchs vor allem in ihrer Jugend, aber auch noch heute bemerkbar: Depressionen, Angstzustände, Suizidgedanken- und Versuche. «Irgendwann hab ich auch aufgehört zu essen. Ich wollte einfach nur verschwinden, glaube ich».
Weiter habe sie aber auch Mühe mit Intimität. Da sei wohl wirklich langfristig etwas kaputt gegangen, sagt sie. Und doch verspürt die junge Frau einen starken sexuellen Drang, gebraucht zu werden und nach hartem Sexualverkehr. Einhergehend mit einer ausgeprägten Angst vor Männern und einem permanenten Fluchtinstinkt, mache dies ihr Leben unglaublich schwer. Angstzustände, vor allem im Dunkeln, im Wald und in geschlossenen Räumen, setzen sie permanent unter Stress.

Realisation und Scham

Die Folgen von Traumata umfassen nahezu das gesamte Spektrum von psychischen Erkrankungen. Vor allem bei einer chronischen Traumatisierung ist die eigene Aufarbeitung oft erst dann möglich, wenn eine gewisse Sicherheit und Stabilität im Leben vorhanden sind. Lange wollte sie die grauenhaften Taten nicht aussprechen, die sie erlebt hat. «Ich wollte auch einfach nicht darüber reden, weil ich es selbst nicht verstanden habe.»
Die Angstzustände wurden schlimmer. Zeitweise hat sie sich selbst büschelweise Haare vom Kopf gerissen und Nägel bis aufs Fleisch abgekaut. «Ich habe mich geschämt. Die Scham war grösser, als die Angst, dass man mir nicht glauben könnte.»

Lichtblick auf dem Hof

Erst als die junge Frau bei einem Praktikum auf einem Hof ein vorübergehendes Zuhause gefunden hatte, öffnete sich ein Lichtblick in ihrer bis anhin düsteren Welt. Durch die Hofmutter kam sie mit der Tiergestützten Therapie in Kontakt. Dabei steht die Triade zwischen der Klient:in, der Fachperson für Tiergestützte Interventionen mit ihrem Tier im Vordergrund. «Weil ich den Menschen nicht vertrauen konnte, habe ich mein Vertrauen in Tiere gesetzt.» 

Es wurden zum Beispiel Übungen während dem Sonnenuntergang mit einem Pferd durchgeführt, die bis zur Dämmerung dauerten. Durch die Zusammenarbeit und den Ruhepol des Tieres konnte die junge Frau, zumindest teilweise, ihre immense Angst vor der Dunkelheit verlieren. Das Tier, ob Hund oder Pferd, gab ihr Halt und Geborgenheit. Während sie sich keinem Menschen öffnen konnte, war dies bei einem Tier sehr wohl möglich, denn: Bei welcher Interventionsform sonst hat man es mit einem zusätzlichen Lebewesen neben dem begleitenden Menschen zu tun? Einem Lebewesen, das einen so annimmt, wie man ist. Das nicht nach Äusserlichkeiten wie Kleidung und Finanzkraft urteilt. Das im Hier und Jetzt lebt. Das authentische, ehrliche, direkte Reaktionen zeigt. Das man eventuell anfassen und streicheln darf, etwas, das unter sich fremden Menschen unüblich ist. Das sich umsorgen lässt, auch wenn der Mensch gerade schwach ist. Das manchen Menschen eine Struktur und Sicherheit vermittelt. (Quelle)

Dabei sei diese Therapieform vor allem zu empfehlen, wenn das Klientel früher bereits mit einem Tier, zum Beispiel mit einem Hund, Kontakt hatte. Weiter kann das Tier auch eine Eisbrecher Funktion einnehmen, beispielsweise, wenn noch nicht über die traumatische Erfahrung gesprochen werden möchte. So können auch die nonverbale Kommunikation und die körperliche Nähe zu einem Lebewesen, welches kein Mensch ist, bei der Traumabewältigung förderlich sein. Weitere Informationen findet man unter anderem auch beim Bundesverband für Tiergestützte Intervention (BTI).

Leben mit Traumata

Es gibt aber auch einen Haken: «Leider kann man ein Pferd nicht mit nach Hause nehmen. Auch nicht ins Tram, in den Zug oder an die Waldparty, die die Freunde feiern.»
Ganz allgemein hat ihr die Therapie aber wahnsinnig mit der Bewältigung und Aufarbeitung von ihren Traumata geholfen. Auch ihre Angstzustände, Depressionen und weitere psychischen Belastungen wurden dadurch stark reduziert.

Natürlich habe sie sich überlegt, einen Hund zu adoptieren. Sie schmunzelt: «Das wäre irgendwie ziemlich egoistisch. Ich würde ein Tier aus seinem Umfeld reissen, nur damit es mir selbst besser geht. Mein Job macht das Ganze noch schwieriger.»

Obwohl die junge Frau mittlerweile mit ihren Traumata leben kann und ihr die Tiergestützte Therapie das Leben erleichtert hat, bestimmen die Folgen des durchlebten Grauens nach wie vor Teile ihres Lebens. So hat sie sich einen Beruf ausgesucht, bei dem sich das Team stetig verändert und sie sich langfristig kein tiefgründiges Vertrauen zu den jeweiligen Personen aufbauen muss. Sie bewegt sich fast immer mit dem eigenen Auto fort, da ihr die Fahrt in öffentlichen Verkehrsmittel Panikattacken bereitet. 

Aufgewühlt wurde der Schmerz und die direkte Konfrontation mit dem Geschehenen im letzten Jahr, als die Übernahme des Familienhauses zum Thema wurde: «Ich hab es ja nie jemandem wirklich erzählt. Da musste ich meiner Mutter fast erklären, warum dies nie mein Zuhause sein wird. Und warum ich auch niemals meine Kinder in diesem Haus gross ziehen will.»

Das Erzählte hat auch bei den Eltern meiner Interviewpartnerin für viel Trauer, Erschütterung und Leid gesorgt. Mittlerweile hat die Familie das Haus verkauft. 

Auf eine Strafanzeite wurde aber auf Wunsch meiner Interviewpartnerin verzichtet, wie so viele Opfer sexuellen Missbrauchs.

Stattdessen öffnet sie sich uns gegenüber:

«Ich hoffe, dass ich Menschen mit meiner Geschichte weiterhelfen kann. Es hat gut getan, das so zu erzählen. Ich kann auch nicht sagen, wie es anderen geht, weil jeder Missbrauch individuelles Leid mit sich zieht. Aber ich kann sagen, dass es auch ein lebenswertes Leben danach gibt.»
 

Das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch (0800 22 55 530) ist die Anlaufstelle für Betroffene von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend, für Angehörige sowie Personen aus dem sozialen Umfeld von Kindern, für Fachkräfte und für alle Interessierten.

24h – Notfallkontakte

Folgende Notfallnummern sind jederzeit erreichbar, und können im Fall eines sexuellen Übergriffs kontaktiert werden:

  • Polizei, Tel.: 112
  • Notruf, Tel.: 114
  • Notfall-Abteilung der regionalen Spitäler
  • Erwachsenenberatung – Die dargebotene Hand, Tel.: 143
  • Kinder- und Jugendberatung, Tel.: 147

Gesellschaft Tiergestützte Therapie und Aktivitäten (GTTA) – Berufsverband der Fachkräfte für Tiergestützte Interventionen: https://gtta.ch

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