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Lotus for Laos: Warum Kolonialismus immer noch im Zentrum der Entwicklungshilfe steht 

Die Schweizer Non-Profit-Organisation Lotus for Laos erklärt uns wie soziale, institutionelle und strukturelle Mechanismen an die Stelle der traditionellen Mittel des Kolonialismus getreten sind und wieso der Kolonialismus so stark in unseren Strukturen verinnerlicht ist.

Von akutmag

Text von Lotus for Laos

Die meisten wissen, dass jede Geschichte mehrere Seiten hat. Die Mehrheit der Menschen ist sich allerdings nicht der ideologischen Verzerrung bewusst, welche die euro-amerikanische Menschheitsgeschichte charakterisiert. Die Ungenauigkeit liegt in der Übertreibung der Rolle Europas in der Vergangenheit, der fehlenden Berücksichtigung jahrhundertelanger globalisierter Beziehungen und der fortgesetzten Darstellung des Westens als Urheber aller guten und fortschrittlichen Dingen. Diese zugrundeliegende Ansicht ist als Eurozentrismus bekannt, welche die Welt basierend auf europäischen Erfahrungen erlebt und interpretiert. Der Eurozentrismus fällt unter den Ethnozentrismus, der die wahrgenommene Überlegenheit einer Gruppe in Bezug auf ihre Ethnizität oder Nationalität beschreibt. Folglich wird der Nicht-Westen durch den Westen und in Bezug auf den Westen definiert, wodurch indigene Erfahrungen an den Rand gedrängt werden. Ethnozentrismus ist zwar in verschiedenen Kulturen und Gruppen zu beobachten, aber keine andere hat sich so drastisch auf das Weltsystem ausgewirkt wie der Eurozentrismus. 

Die durch diese Weltsicht begründete selbsternannte Überlegenheit hat die materielle Grundlage für die koloniale und imperialistische Aneignung, Ausbeutung und Diskriminierung geschaffen, die die Weltgeschichte dominiert. Während die Zeiten des Kolonialismus und Imperialismus scheinbar der Vergangenheit angehören, hat die Welt ihr Erbe verinnerlicht. Das globale System wird immer noch grösstenteils von denselben Nationen beherrscht. Die Vereinten Nationen stufen sechzehn Gebiete immer noch als nicht-selbstverwaltete Gebiete ein, da sie nach wie vor in der Obhut ihrer früheren Kolonialherren stehen. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon erklärte offen, dass die Entkolonialisierung eine unvollendete Aufgabe bleibt. Die gleichen Länder beherrschen immer noch die Welt. Aber sie müssen sich nicht mehr auf rohe Kraft und militärische Macht verlassen. Die Gewalt von heute geschieht im Namen von Freiheit, Demokratie und Fortschritt/Entwicklung. 

Eurozentrismus im weitesten Sinne bezieht sich auf das Narrativ, dass der Westen der Erfinder all dessen ist, was die Welt von den Fesseln der Barbarei befreit hat. Er postuliert, dass sich die Welt ohne Freiheit, Demokratie und Menschenrechte immer noch in dunklen Zeiten des Mittelalters befinden würde. Viele halten Europa immer noch für die Wiege der modernen Zivilisation und für den Urheber der weltweit am meisten geschätzten Werte. Europa stellt den Ursprung des modernen Denkens dar und ist verantwortlich für das Erbe an sozialen Normen, ethischen Werten und normativen Überzeugungen, die die Menschheit in ihrem fortgeschrittensten Stadium zeigen. Bis heute gilt die westliche Welt als der «Gipfel des menschlichen Fortschritts». Im Kern ist die historische Erzählung ein falscher Universalismus der europäischen/westlichen Überlegenheit, der auf Kosten des Rests der Welt ausgetragen wird. Es handelt sich um eine Weltsicht, die den Nicht-Westen in westlichen Begriffen, Werten und Erfahrungen interpretiert und ihm Vorrang einräumt.

Im Mittelpunkt dieses Artikels steht die Hypothese, dass soziale, institutionelle und strukturelle Mechanismen an die Stelle der traditionellen Mittel des Kolonialismus getreten sind. Die Strukturen, die es den westlichen Nationen ermöglichen Kontrolle aufrechtzuerhalten ohne auf offene Herrschaftsinstrumente zurückzugreifen, werden somit kontinuierlich bewahrt und reproduziert. Die Entwicklungshilfe ist da keine Ausnahme. 

Der Begriff Entwicklungshilfe beruht auf einem eurozentrischen Verständnis eines bestimmten Fortschritts, der sowohl als wünschenswert als auch als notwendig erachtet wird. Schon das Wort «Entwicklungshilfe» ist seinem Wesen nach eurozentrisch. Mit anderen Worten: Europa hat beschlossen, dass alle Gesellschaften auf demselben unvermeidlichen linearen Weg in die Moderne sind und dass diejenigen, die noch nicht so weit sind, Hilfe brauchen, um dorthin zu gelangen, wo Europa bereits steht. Dabei wird von der Überlegenheit der westlichen Kultur ausgegangen und der Wert anderer Lebensweisen nicht anerkannt, sondern nur die Notwendigkeit gesehen, das eurozentrische Modell zu übernehmen. Die Polarität von «entwickelt» und «unterentwickelt» verstärkt die Definition des Nicht-Westens in Bezug auf den Westen, gemessen an dem, was er nicht ist, anstatt an dem, was er ist. 

Die zivilisierende Mission (Französisch: mission civilisatrice) war die ideologische Begründung für die militärische Intervention und die Kolonisierung, die die Modernisierung und Verwestlichung der indigenen Völker zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert rechtfertigte. Auch wenn die zivilisierende Mission den Postkolonialismus nicht überlebt hat, haben sich die Ideen von Fortschritt und Entwicklung als weitaus widerstandsfähiger erwiesen. Die Konzepte des Fortschritts und der Entwicklung bestimmen viele Diskussionen über den notwendigen Fortschritt in den Entwicklungsländern. Die Idee des Fortschritts war ein zentrales Motiv und ein gängiger Standpunkt im Zeitalter der Aufklärung, im Gegensatz zur Definition von Vernunft und Zivilisation. Sie ist auch heute noch der grundlegende Anreiz für viele wirtschaftliche und politische Prozesse. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg benutzte der Westen die Idee des Fortschritts als Motor jeder positiven Entwicklung und zur Rechtfertigung seines politischen Engagements bei der späteren Neuordnung der Dritten Welt. Während der Kolonialzeit hatte er dieselbe Logik verwendet, aber den Begriff «zivilisiert» durch «Fortschritt» und «Entwicklung» ersetzt.  

Wie bereits erwähnt, sind die Ideen der Modernisierung, des Fortschritts und der Entwicklung selbst eurozentrisch. Der Mechanismus, durch den die Annahme einer universellen, linearen Entwicklung hin zur Modernität reproduziert wird, kommt jedoch durch die Bemühungen der Entwicklungshilfe oder der öffentlichen Entwicklungshilfe (ODA) ins Spiel. Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD, 2021): «Öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) ist definiert als staatliche Hilfe zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung und des Wohlstands von Entwicklungsländern.» Die OECD ist überwiegend westlich geprägt und erstellt Rankings, die für den Rest der Welt einflussreich sind. Sie stützt sich bei diesen Länderrankings auf eurozentrische Kategorien wie Entwicklung (HDI: Human Development Index), Knappheit, Armut und Alphabetisierung. Diese Begriffe sind sowohl in der Entwicklungshilfe als auch in der humanitären Hilfe nahezu sakrosankt geworden. 

So ist beispielsweise der Begriff der Armut in der westlichen Welt sehr negativ besetzt; Armut ist etwas, das in einer von Kapital und Materialismus beherrschten Welt vermieden und sogar bedauert werden muss. Es hat jedoch immer Menschen gegeben, die sich dafür entschieden haben, indem sie die Sprache als qualitativen Stellvertreter nutzten. Sowohl im Persischen als auch im Lateinischen gibt es etwa 30 bis 40 Wörter, die verschiedene Vorstellungen von Armut beschreiben. Klar besteht ein Unterschied zwischen einem minimalistischen Lebensstil und der Unfähigkeit, seine grundlegenden Bedürfnisse in Bezug auf Nahrung, Wasser und Unterkunft zu befriedigen. Der Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung selbst schafft die Bedingungen für Entbehrungen, Kapitalismus und die Aneignung von Ressourcen über nationale Grenzen hinweg.

In ähnlicher Weise ist die Alphabetisierung heutzutage eines der wichtigsten Kriterien für die Bestimmung des Status oder des Fortschritts einer Nation. Der Wert der Lesefähigkeit hängt jedoch von einem bestimmten Kontext ab. Nicht alle Lebensweisen erfordern die gleichen Fähigkeiten, um zu überleben. Die Alphabetisierung ist einer der Begriffe, die verwendet wird, um Länder in eine Rangfolge zu bringen, wobei ausdrücklich suggeriert wird, dass diejenigen, denen es gelingt, die Alphabetisierungsrate zu erhöhen, auf der Skala der Zivilisationen als fortschrittlicher gelten. 

Ob im Namen einer zivilisierenden Mission, der Entwicklungshilfe oder sogar der «Hilfe zur Selbsthilfe», eine Vielzahl von Projekten und Bemühungen zur Verbesserung einer Situation weisen eine ungleiche Dynamik zwischen Geber und Empfänger auf, die es dem Ersteren ermöglicht, seine Ideen, Werte und Anliegen durchzusetzen. Die unverhältnismässige Zuteilung von Stimmrechten in der Weltbank und im Internationalen Währungsfonds untermauert dieses Argument, da die westlichen Länder überwiegend die Entscheidungen «zugunsten» der weniger entwickelten Mitglieder bestimmen. Auch die Ziele der OECD, die Förderung des wirtschaftlichen Fortschritts und des Welthandels, werden ebenso wie die von ihr veröffentlichten Ranglisten vom Westen und in westlichen Begriffen definiert. Die gesamte Welt der Entwicklungshilfe beruht auf einem Machtgefälle, das oft bewusst oder unbewusst ausgenutzt wird, um auf lokaler und globaler Ebene ständig westliche und eurozentrische Ziele durchzusetzen.

Diejenigen, die nicht aus der Vergangenheit lernen, sind dazu verdammt, sie zu wiederholen. Wie können wir Ihrer Meinung nach die Hilfe dekolonisieren und bessere Wege finden, um die Ungleichheit, die die heutige Welt kennzeichnet, zu verringern? 

Lotus for Laos ist eine Schweizer Non-Profit-Organisation, die jungen Menschen aus Laos aus drei verschiedenen Waisenhäusern in Luang Prabang die Möglichkeit bietet, ihre eigene nachhaltige Zukunft zu gestalten. Indem sie den jungen Menschen die Möglichkeit geben, einen Universitätsabschluss zu erwerben, können sie das System, in dem sie leben, aus eigener Kraft verändern. Die Verbesserung dieser Bildungschancen hat für Lotus for Laos oberste Priorität.

05. August 2022

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