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«Human.Kind.» – humanitäre Arbeit in der Fotografie

Noch bis zum 14. April 2024 zeigt das Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondmuseum in Genf die Ausstellung «Human.Kind.». Präsentiert werden knapp 300 Werke der zeitgenössischen Fotografie, die sich den Herausforderungen und der Komplexität humanitärer Arbeit widmen. Die Aufnahmen unterscheiden sich sehr von den Bildern aus der täglichen Medienflut und heben durch einen sensiblen Ansatz stets die Würde des Menschen hervor. Wir sprachen mit zwei der insgesamt 30 Fotograf:innen über ihre Projekte.

Von Janine Friedrich

30 Fotografinnen und Fotografen aus 24 verschiedenen Ländern wirken bei «Human.Kind.» mit. Sie wurden aus den Teilnehmenden des Prix Pictet, der weltweit renommiertesten Auszeichnung für Fotografie und Nachhaltigkeit, ausgewählt. In ihren Dokumentationen, Porträts oder Fotomontagen beschäftigen sich die Kunstschaffenden unter anderem mit gesellschaftlichen Konflikten, Naturerhalt oder der kulturellen Vielfalt und Identität. Vom Ausbruch des Vulkans Taal auf den Philippinen über die bewaffneten Gruppen in der Sahelzone bis hin zu den Lebensbedingungen der Frauen in den sibirischen Gefängnissen sind vielfältigste Themen und Lebensrealitäten vertreten. Jedes Werk erzählt dabei eine ganz eigene Geschichte, die uns dazu einlädt, mehr Interesse für unsere Mitmenschen zu kultivieren – egal, wie unterschiedlich oder auch tragisch ihre Situation aussehen mag und egal, wo auf dem Planeten sie sind. Denn wenn wir einen gemeinsamen Nenner für unsere Menschlichkeit finden, so können wir viel leichter Mitgefühl, Akzeptanz und Toleranz entstehen lassen. Die grosse Vielfalt an neuen Blickwinkeln, die uns diese einzigartige Ausstellung bietet, lässt uns das aktuelle Geschehen, was in den Medien präsent ist, kritisch hinterfragen. Sie fordert uns auf, unsere Werte zu reflektieren und unsere Sinne für die uns vorgesetzte Bildsprache zu schärfen. So fördert Kunst nicht nur die Debatte, sondern ermöglicht uns auch einen besseren Zugang zur Welt, in der wir heute leben, und lässt uns verstehen, wie sehr die humanitäre Arbeit uns alle betrifft.

Muzaffar Salman From the series Aleppo Point Zero, Aleppo, Syria (2013).

Eine der Fotografinnen ist Rena Effendi. Sie begab sich für ihr Projekt nach Khinaliq, in das höchstgelegene bewohnte Dorf ihres Heimatlandes Aserbaidschans. Dorthin, wo die Häuser in einen Berghang gebaut wurden; wo fliessendes Wasser nur in einem nahe gelegenen Bach vorhanden ist und statt Gas lediglich natürliche Feuer zur Verfügung stehen. Die einzige Einnahmequelle der etwa 1.000 Hirtenfamilien, die hier leben, ist die Schafzucht. Mit ihrer Fotodokumentation schaffte es Rena Effendi einen besonderen Lebensstil, der vom Verschwinden bedroht ist, für andere zugänglich zu machen. Wir haben mit ihr über ihre Arbeit gesprochen.

Was faszinierte dich daran, das Leben in einem von der Aussenwelt isolierten Dorf festzuhalten?

Rena Effendi: Als ich 2003 zum ersten Mal nach Khinaliq kam, war ich ein Tourist in meinem eigenen Land. Doch schnell wurde ich zu einer visuellen Geschichtenerzählerin, die eine aussterbende Lebensweise einfängt. Nachdem ich in meiner Heimatstadt Baku miterlebt hab, wie historische Denkmäler zerstört wurden, befürchtete ich, dass Khinaliq der gleichen Nachlässigkeit zum Opfer fallen würde. Mit meinen Fotografien wollte ich Beweise für die besondere kulturelle Identität von Khinaliq bewahren und das Erbe dokumentieren, bevor es sich verändert oder von der Geschichte begraben wird.

Von 2003 bis 2018 hast du Khinaliq immer wieder besucht. Welche Veränderungen hast du bereits miterlebt?

Im Laufe dieser 15 Jahre wurden immer mehr traditionelle aus Flussstein bestehende Häuser mit Ziegeln und Zement wieder aufgebaut oder mit Blechdächern bedeckt, was nicht mehr dem architektonischen Stil des Dorfes entspricht. Auch die farbenfrohe Inneneinrichtung wurde nach und nach mit modernen Materialien ersetzt. Im Sommer 2006 begannen die aserbaidschanischen Behörden zudem mit dem Bau einer neuen Strasse, die das Dorf mit einem geplanten Skigebiet in 30 Kilometern Entfernung verbinden sollte. Während wir durch das Flusstal fuhren, sprengten Bauarbeiter Berge. Die neue Strasse lindert seither zwar die mit der Isolation verbundenen Herausforderungen, bedroht aber auch die bedeutsame Kultur von Khinaliq. 

Rena Effendi Sadaget bakes bread in a tadoor oven at home. From the series Khinaliq Village (2006).

Welche unerwarteten Erkenntnisse hast du durch dieses Projekt gewonnen?

Wie erfüllend ein Ort der Entbehrungen und ein Leben nur mit dem Nötigsten sein kann und die Menschen trotzdem zufrieden sind. In abgelegenen ländlichen Gemeinden, wo sich das Leben um die Agrarkultur und die Bewahrung jahrhundertealter Traditionen und Rituale dreht, gibt es stets viel Harmonie und Gelassenheit. Die Menschen sind weise und grosszügig, ohne viel zu erwarten. Eine Frau sagte mir, dass sie, wenn sie einen Tag lang mit ihren Händen arbeitet, den Raum in ihrem Kopf frei macht, um schöne Gedanken zu denken.

Denkst du, dass deine Bilder den Wunsch nach einem einfacheren Leben hervorrufen können?

Mit diesen Fotos möchte ich nicht die Sehnsucht nach einem einfacheren Lebensstil wecken, sondern vielmehr Wissen und Wertschätzung für eine einmalige Kultur vermitteln. In der heutigen Zeit, in der sich die Städte rasant ausbreiten und kleine Dörfer verschlucken, ist eine Gemeinde wie Khinaliq, die sich durch ihre Abgeschiedenheit ihre alte Lebensweise bewahrt hat, vom Verschwinden bedroht. Gleiches gilt für die einzigartige Khinalug-Sprache. Mein Porträt von diesem Ort romantisiert oder exotisiert ihn und seine Menschen nicht, sondern zelebriert einfach seine Grossartigkeit. Im Laufe der Jahre habe ich dieselben Menschen fotografiert: Während die Frauen immer noch vor Schönheit strahlen, sind ihre Kinder inzwischen zu jungen Erwachsenen herangewachsen und suchen nach Möglichkeiten, ihr Dorfleben hinter sich zu lassen.

Warum ist es wichtig, alle Lebensrealitäten auf der Erde zu sehen, zu zeigen und zu würdigen?

Wenn die Menschen ihre Vergangenheit oder eben andere Gegenwarten nicht kennen, wissen sie nicht, wie sie in die Zukunft blicken sollen. Solche Geschichten bringen Menschen zusammen und geben ihnen eine Perspektive, sie erweitern ihren Horizont und ihr Verständnis für die Welt um sie herum. Die Dokumentarfotografie sehe ich dafür als ein Werkzeug – eine visuelle Sprache, mit der man eben solche Geschichten von Menschen, Kulturen und aussergewöhnlichen Orten auf der ganzen Welt bewahren kann. Das ist eines der Gründe, warum ich Fotografin geworden bin.

Rena Effendi Yegana and her sister-in-law at home. From the series Khinaliq Village (2006).

Auch die Fotoreihe «Aleppo Diaries» von Muzaffar Salman aus Syrien ist Teil der «Human.Kind.» Ausstellung. Im Jahr 2013 erreichte er nach einer schwierigen Reise die Stadt Aleppo, wo er den Krieg dokumentieren wollte. Doch diese Absicht änderte sich vor Ort plötzlich, und er begann, Momente des Lebens in dieser umkämpften Hölle einzufangen. In seinen Bildern hinterfragt er die Rolle der Fotografie, durchbricht Barrieren und fand heraus, wo Empathie anfängt. Wir haben ihn zum Gespräch getroffen.

In welchem Moment änderte sich die Intention deiner fotografischen Dokumentation vor Ort?

Muzaffar Salman: Als ich erkannte, dass Bilder von Krieg, Zerstörung und Tod wie eine Barriere wirken: Sie verhinderten, dass all die Geschichten der Menschen, die sich inmitten einer solchen tragischen Realität befinden, die Aussenwelt erreichen. Um diese Barriere zu durchbrechen, brauchte es Gemeinsamkeiten zwischen dem zukünftigen Betrachtenden der Fotos und den Menschen in den Bildern. Diese Gemeinsamkeiten haben ganz klar mit dem Leben zu tun, auch wenn es Leid mit sich bringen kann. Denn ein Foto, das nur ein vom Krieg zerstörtes Haus abbildet, hat mit dem sicheren Leben derjenigen, die es betrachten, keine Überschneidungen. Deshalb fand ich es wichtiger, das Gesicht eines Mädchens zu fotografieren, das von der Schule zurückkehrt und das durch eine Rakete aus einem Kriegsflugzeug zerstörte Zuhause entdeckt. Sicherlich gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen diesem traurigen Gesicht im Bild und jenem, der es anschaut. Hier beginnt die Empathie.

Du distanzierst dich also damit auch von der Kriegsfotografie?

Für mich ist Kriegsfotografie nichts als eine dunkle Komödie. Die öffentliche Zurschaustellung von Kriegsbildern dient nur dazu, Helden zu schaffen: in diesem Fall sind das die Kriegsfotografen, die sogar Auszeichnungen dafür erhalten. Doch wie kann ich ein Held sein, wenn meine Freunde verhaftet oder getötet werden oder unter mysteriösen Umständen verschwinden, und mein Land jeden Tag zerstört wird? Die Fotografie selbst ist zu einer Waffe geworden, die in Kriegen eingesetzt wird, was die Rolle der Fotografie verzerrt. Auch die Idee, dass Fotografie die Macht hat, mehr Frieden zu bringen, hängt mit der Erschaffung des heldenhaften Kriegsfotografen zusammen. Wenn es jedoch so wäre, würden wir nicht in einer Zeit leben, in der die Kriege und Konflikte der Neuzeit so eskaliert sind.

Was ist deine Art der Fotografie für dich und was kann oder soll sie bewirken?

Kurz gesagt: ein Instrument des konzentrierten Betrachtens, der Erkundung und der Reflexion über das Leben. Mein Anspruch für die Fotografie ist daher vielmehr die Existenz eines natürlichen Raums, der aus zwei Dingen besteht, die wir in ihrem blossen Zustand nicht erfassen können: Zeit und Licht. Wir können sie nur durch Bilder festhalten. Dieser Aspekt ermöglicht uns, mehrere Ebenen der Wahrheit zu erforschen. Vielleicht führt er uns sogar in eine neue Welt, in der Krieg nicht mehr als wirtschaftliche Notwendigkeit dargestellt wird. Mein Ziel ist es, eine bestimmte Erzählung zu vermitteln, die bei einigen Betrachtenden Hoffnung oder Mitgefühl wecken, bei anderen aber auch Wut oder Verärgerung hervorrufen kann. Der fotografische Prozess ist allerdings viel zu komplex, weshalb die psychologische Wirkung auf die Rezipienten nicht kontrollier- oder erwartbar ist. Selbst wenn Bilder als Waffe eingesetzt werden, um eine bestimmte Ideologie zu konstruieren oder zu bekämpfen, hat die Fotografie oft unvorhersehbare Auswirkungen.

From the series Aleppo Point Zero, Aleppo, Syria (2013).

Wie hast du persönlich deine Zeit in Aleppo erlebt, welche Gefühle waren präsent?

Vor der Ankunft in Aleppo war das vorherrschende Gefühl Angst, danach war es eine allgemeine Taubheit. Das Gefühl der Hoffnung, welches eng mit Hilflosigkeit verknüpft ist, kam erst nach Jahren des Lebens in sicheren Verhältnissen in Frankreich auf. Während meiner Arbeit in Aleppo gab es keine Emotionen, sondern nur eine erhebliche Ausschüttung von Adrenalin. Der Gedanke an einen künstlerischen Prozess findet vor und nach der Ausführung statt, während der Ausführung steht nur der technische Aspekt im Vordergrund.

Was denkst du, ist die treibende Kraft, die Menschen dazu bringt, für das Leben oder das, was noch davon übrig ist, zu kämpfen und sich sogar der Kapitulation zu widersetzen?

Die Abwesenheit von Angst. Sie verschwindet, wenn ein Mensch den Tiefpunkt erreicht, wie beispielsweise durch einen tiefgreifenden Verlust oder wenn man dem Tod ins Auge blickt. Erst dann, wenn es scheinbar nichts mehr zu verlieren gibt, wird die Wahrnehmung für das Leben klarer, das Wesentliche rückt in den Fokus und die wahre Stärke offenbart sich.

Mehr Informationen: https://redcrossmuseum.ch/exhibitions/human-kind-photography-exhibition-pictet/

Ausstellungskuration: William A. Ewing und Elisa Rusca; Projektleitung: Pascal Hufschmid

15. Januar 2024

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