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Die fremde Person, die mich immer wieder zu kennen glaubt 

Ich erstarre zu Eis, mein Herz im Flugmodus, ohne jedes Netz ausser meiner äusseren, kalten Schale. Du sagst es gelassen, fast beiläufig, wie aus dem Nichts. Es trifft mich völlig unvorbereitet. Wie ein Schuss aus nächster Nähe. Tödlich.

Von akutmag

Text von Isabelle Zarn

Hast du abgenommen?

Der kleine bittersüsse Schmerz einer Wunde, die immer wieder aufs Neue aufreisst. Durch drei verletzende Worte oder deren unendlichen, nicht minder effektiven Variationen. Ich weiss, dass du diesen Schmerz nicht kennst. Ich weiss, dass du das Erstarren nicht kennst. Ich weiss, dass du es nicht böse meinst. Es tut deswegen nicht weniger weh. Das Erstarren, weisst du, das brauche ich, damit ich nicht verblute ob meiner Wunde. Der dumme Nebeneffekt ist, dass ich nicht mehr in der Lage bin, frei zu sein. Das Eis formt meine Lippen zu einem unehrlichen Lächeln, es friert meine Gefühle für kurze Zeit ein und zeigt dir mein sozialverträgliches Gesicht. Es ist eine erzwungene, eiskalte Lüge. 

Zwei, drei Kilo mehr und dann gefällts den Männern wieder.

Sagst du mit einem unreflektierten, gutgemeinten Augenzwinkern. Ohne jegliche moralische Hemmung. Wieder aus nächster Nähe. Tödlich, wie immer. Weisst du, ich frage mich, wie viele Tode ein Mensch sterben kann. Ohne, dass es jemand bemerkt. Du weisst nicht, dass ich in jahrelanger Behandlung und durch unzählige Tränen hindurch ging, um diese Gefühle, die solche Worte in mir auslösen, mir selbst gegenüber liebevoll einzuordnen. Als es mir schlecht ging, waren diese Worte Gift. Denn sie sagten mir, dass meine unheilvolle Veränderung sichtbar wird. Genau das, was ich ja wollte. Sie spornten mich auf eine kranke Weise genau zum Gegenteil dessen an, was du beabsichtigtest. Ich konnte dir gegenüber schon immer, auch in der dunkelsten Zeit, sehr nett sein. Dir genau das sagen, was du hören wolltest. Sozialverträglich sein. So kümmerte ich mich in solchen Situationen immer zuerst und zuletzt und ausschliesslich um dich. Mein gesundes, noch schwaches Ich aber lag, blutend, alleine am Boden. Ohne, dass es jemand merkte. Nicht mal ich selbst. 

Heute weiss ich, dass mich mein Eis vor dir schützt. Dass ich mich nicht mehr um dich zu kümmern brauche, wenn du schiesst. Denn du bist es, der mit Worten schiesst, nicht ich mit meinem Aussehen, das dich immer wieder zu provozieren scheint, mich zu analysieren. Nicht zu lügen, das bringe ich noch immer nicht fertig. Ich lüge dich an, denn ich möchte mich weder vor dir, du fremde Person, rechtfertigen noch dir meine ganze, hoch intime Geschichte erzählen. Ich hasse es aufrichtig, dich deinetwegen zu belügen. Ich fühle mich schlecht, aber es ist der beste Weg, diesen Kampf mit so wenig Verlusten wie möglich zu verlassen. Nicht mal meine Mutter weiss die ganze Wahrheit. Nicht mal ihr bin ich jedes Detail meiner Geschichte schuldig. Wieso sollte ich es dir, du fremde Person, erzählen? 

Schau mal, deine dünnen Handgelenke, das hast du doch nicht nötig.

Indem du schiesst, überschreitest du jede vorstellbare Grenze. Die des Anstandes, die der Empathie und die des Respektes vor der Tatsache, dass du mich nicht kennst. Auch wenn du eine Bekannte bist, die mir ab und an in der Bar Hallo sagt, bist du eine Fremde. Du kennst mich nicht, und ich nicht dich. Meine Geschichte ist für dich in deinem Kopf vielleicht diejenige deiner Schwester. Ich bin in deinen Augen deine Schwester. 

Wenn du schiesst, trage ich ihren Schmerz mit. Du wirst niemals wissen, wie sehr das wirklich weh tut. Besonders dann schmerzt, wenn es mir endlich besser geht. Wenn ich endlich wieder zu einer gesunden Frau geworden bin, mein Inneres voller Wärme und Vertrauen in mich selbst ist. Du denkst immer wieder, dass mein Äusseres direkt auf mein Inneres schliesst. Du denkst, wie ich mich heute fühle, müsse morgen mein Körper ersichtlich machen. Du scheinst zu wissen, was gesund aussieht und was krank. Ein individuell gibt es für dich nicht. 

Herzlichen Glückwunsch, ich liege am Boden. Glücklich darüber, dass dein Gift mir nichts mehr anhaben kann im Wissen, dass ich die Wunde verkraften werde. Dankbar dafür, dass ich noch heute wieder aufstehen und morgen schon ich nicht mehr lügen werde, um dich zu schützen. 

Du kennst mich nicht. Tu nicht so, als wolltest du mir helfen. Lass deine Überheblichkeit, als wüsstest du alles über mich, nur weil du meine Hülle betrachtest. Sie gehört zu mir und ich habe sie gerade eben lieben gelernt, so wie sie ist. Bitte, sei endlich still.

17. Oktober 2023

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