Text von Gastautorin Norma Eggenberger.
Der Saal ist rappelvoll und unverkennbar sitzen sie neben mir – die Kenner:innen. Man spürt es bei der Einführung des Filmes, missbilligendes Schnalzen als der Name des Regisseurs falsch ausgesprochen wird. Hayao Miyazaki ist ein japanischer Anime-Regisseur, Drehbuchautor, Zeichner, Grafiker, Mangaka und Filmproduzent und hat 1985 mit Isao Takahata das berühmte «Studio Ghibli» gegründet. Die Erwartungen und Vorfreude auf den vermeintlich letzten Paukenschlag, bevor der Vorhang fällt, sind hoch. Nach Filmen wie «Chihiros Reise ins Zauberland», «Das wandelnde Schloss», «Prinzessin Mononoke» und vielen mehr, war nach sechsjähriger Produktion «The Boy and the Heron» als letztes Werk des Weltenerfinders im Gespräch. Doch Miyazaki verkündete bereits 2013, dass «Wie der Wind sich hebt», sein letzter Film sein soll und auch mit «The Boy and the Heron» soll die Reise nicht enden: Es wird gemunkelt, dass ein neuer Film bereits in Entstehung ist.
Der japanische Titel von Miyazakis jüngstem Film lautet «How Do You Live?» nach dem Roman von Genzaburo Yoshino aus dem Jahr 1937. Es handelt sich dabei um das Lieblingsbuch aus Miyazakis Kindheit und obwohl der Film keine Adaption davon ist, taucht es physisch darin auf und wird von dem Protagonisten Mahito Mako gelesen. Mahito Mako ist ein verschlossener Junge, durch den Verlust seiner Mutter im Pazifikkrieg tief geprägt. Der verzweifelte Versuch, noch rechtzeitig zu ihr zu gelangen, bildet die erschütternde Eröffnungsszene von «The Boy and the Heron». Mahito kämpft sich mit aller Kraft durch die Trümmer Tokyos. Ziel ist das Krankenhaus, in welchem die Mutter während des Luftangriffes arbeitet. Die Flammen um ihn verschlingen ihn beinahe und zerren an ihm. Ein überraschend düsterer Auftakt, der durch die darauffolgenden sanfteren Bilder etwas in Vergessenheit gerät. Nach der Tragödie zieht Mahito mit seinem Vater auf das Land. Dieser ist nun mit seiner ehemaligen Schwägerin frisch verheiratet. Mahitos Tante soll seine neue Mutter werden, das neue Kind bereits im Bauch. Die Familienverhältnisse; kompliziert. Mahito fühlt sich in der ländlichen Idylle fehl am Platz. Seine neue Mutter kann er nicht als solche akzeptieren und die schrulligen Hutzelfrauen, die im Haus herumwuseln, vollenden mit einem angsteinflössenden um das Haus kreisenden Graureiher das bizarre Bild des Anwesens. Letzterer sucht Mahito wiederholt mit krächzender Stimme auf und will ihn in einen abgelegenen Turm im Wald locken. Dort entfaltet sich eine Welt, die gefährlich und wundervoll zugleich ist, Raum und Zeit durcheinanderbringt und trotz ihrer Kuriositäten die unsere treffsicher spiegelt. Mahito stürzt sich ohne viel Federlesen in das Abenteuer und die Parallelwelt, wo er seine Mutter und damit auch sich selbst wiederzufinden hofft.
Das Hauptaugenmerk bei «The Boy and the Heron» legt Miyazaki auf die Welt der Vögel, was auch mit seiner sonst präsenten Vorliebe für das Fliegen und die Lüfte nicht überraschend ist. So verlieft ein Kranich seine Boshaftigkeit durch die Enthüllung seines wahren Ichs und Flamingos, welche unschuldige Fabelwesen (Warawara) essen, wirken zunächst wie fliegende Albträume. Durch ihre Erklärung, dass sie keine Fische in den Meeren mehr finden würden und deshalb ausweichen müssen, wird schmerzlich bewusst, dass dieser Film trotz seiner Fantasie Reales erzählt.
Miyazaki knüpft an den Themen seiner bereits vorhergehenden Filmen an: Menschengemachte Katastrophen wie Naturzerstörung und Kriege sind bereits in «Prinzessin Mononoke», «Chihiros Reise ins Zauberland», «Das wandelnde Schloss» und «Das Schloss im Himmel» allgegenwärtig. Auch in «The Boy and the Heron» verwebt Miyazaki mythische wie reale Gegebenheiten. In der Parallelwelt mögen die Flamingos zwar als Fabelwesen gelten, das Problem des schwindenden Lebensraumes für unzählige Tiere ist jedoch auch in der Wirklichkeit nichts Neues. Darüber hinaus zieht sich das Thema Krieg durch die Erzählung, sei es durch die Darstellung des Pazifikkrieges oder die drohenden Konflikte in den Parallelwelten, die dem Zusammenbruch nahe sind.
Dennoch sorgt «The Boy and the Heron» immer wieder für ein Schmunzeln, was Miyazakis Repertoire an Charakterköpfen zu verdanken ist. Wie alte Bekannte wirken sie auf der Leinwand; die Hutzelweiber, stets einen klugen Spruch auf den Lippen oder in eine Kabbelei um eine Zigarette verwickelt, wirken wie entfernte Cousinen der schrumpeligen Hexe aus «Das Wandelnde Schloss», der Graureiher, wahrscheinlich Vorfahre der kleinen Yu-Krähe aus «Chihiro» und Mahitos Mutter, die mit ihrer Fähigkeit Feuer zu erzeugen stark an Hauru aus «Das wandelnde Schloss» erinnert. Es sind Bösewichte, die eigentlich gar keine sind, und Helden, die zu ihrer Unvollkommenheit stehen. Auch Mahito ist nicht vollends rein, sondern trägt stets einen Schatten der Dunkelheit und des Verlusts in sich.
Dem bereits 82-jährigen Regisseur Miyazaki gelingt auch mit seinem vor(?)vor(?)letzten Film eine schmerzlich schöne Darstellung von Verlust und Neuanfang, von Tod und Leben und zeigt damit auf, wie vergänglich alles ist. Die handgezeichnete Welt, die wie immer hinreissend musikalisch untermalt wird von Joe Hisaishis Kompositionen, eröffnet sich bereits zur ersten Szene, verschluckt und spuckt einen wieder aus. Die Sehnsucht nach mehr stellt sich unmittelbar danach ein. Auch nach all den Jahren (zehn um genau zu sein) sind die Gefühle dieselben, das Kind in einem flammt auf, wie alle Figuren Miyazakis.
Schlussendlich wirkt «The Boy and the Heron» wie eine Versöhnung mit einer Welt, in der Schwarz und Weiss sowieso noch nie existiert haben. Wer also eine Neuerfindung des Regisseurs erwartet, wird mit «The Boy und the Heron» womöglich nicht vollends gesättigt sein. Das ist jedoch vielleicht auch gar nicht notwendig, denn Miyazaki kreiert Filme und Welten für die Ewigkeit. Trotz ihrer brutalen Ehrlichkeit spenden sie Trost und bieten eine Rückkehr an einen Ort, der als Heimat dient und dennoch immer wieder in die Realität zurückführt.
15. Oktober 2023