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«Kinder sollen nicht immer lieb und brav sein» – Dayan Kodua im Interview

Mit ihrem neuen Kinderbuch «Wenn meine Haare sprechen könnten» macht Dayan Kodua auf etwas aufmerksam, was Kinder mit afrodiasporalen* Bezügen sehr häufig erleben: Dass fremde Menschen ihnen ungefragt in die Haare fassen. Ein Thema, das uns alle etwas angeht. Wir sprachen mit ihr über das Setzen persönlicher Grenzen, die Haare als verlängerte Form der Seele und wieso Erwachsene den Kindern besser zuhören sollten.

Von Janine Friedrich

(*afrodiasporal bedeutet, dass Menschen in ihrer Geschichte verwandtschaftliche Bezüge zum afrikanischen Kontinent haben. Eine weitere korrekte Bezeichnung lautet: Schwarze Menschen/Personen. Um den Widerstandscharakter dieses Begriffs zu betonen, wird das S grossgeschrieben. Schwarz ist eine Selbstpositionierung und bezeichnet keine Hautfarbe. Es geht dabei um die geteilten Rassismuserfahrungen der Menschen mit afrodiasporalen Bezügen und nicht um vermeintlich biologische Gemeinsamkeiten. Schwarz darf als Fremdbezeichnung benutzt werden, allerdings wird dies von einigen Kindern abgelehnt, weil sie braune Haut haben. Das gilt es zu akzeptieren.) 

Sie ist Schauspielerin, Sprecherin, Autorin und Gründerin des Gratitude Verlags: Dayan Kodua, geboren in Ghana und aufgewachsen in Kiel, lebt heute mit ihrer Familie in Hamburg. Innerhalb ihrer vielfältigen Karriere hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, Schwarze Menschen im deutschsprachigen Raum zu empowern und sie in ihrer Vorbildfunktion sichtbarer zu machen. Bekannt ist sie unter anderem für den 2014 veröffentlichten Bildband «My Black Skin: Schwarz. Erfolgreich. Deutsch». Besonders am Herzen liegt es der zweifachen Mutter, Kinder zu ermutigen und sie auf ihre innere Stärke hinzuweisen. Das tat sie bereits mit ihren Bilderbüchern «Odo» und «Odo und der Beginn einer grossen Reise».

In ihrem neuesten Kinderbuch «Wenn meine Haare sprechen könnten» behandelt sie die Themen Selbstliebe, Kummer und Selbstermächtigung. Darin geht es um die 7-jährige Akoma, die mit ihren Eltern in der Nähe von Hamburg lebt. Bei einem Schulausflug auf den Bauernhof macht das Mädchen eine sehr unangenehme und bedrückende Erfahrung: Die Bäuerin fasst ihr ungefragt in die Haare und übertritt damit Akoma‘s persönliche Grenzen. Akoma traut sich jedoch nichts zu sagen – vorerst.

Warum ist Akoma’s Geschichte so wichtig?

Dayan: In erster Linie ist sie wichtig für Kinder, damit sie lernen, Grenzen zu setzen, ihre Bedürfnisse zu kommunizieren und Nein zu sagen, ohne sich dabei schlecht zu fühlen. Das Problem ist natürlich, dass Kinder oft gesagt bekommen, sie sollen immer lieb und brav sein – aber sie müssen sich eben nicht alles gefallen lassen. Dadurch fängt es nämlich an. Wenn man als Kind nicht lernt, Nein zu sagen und sich immer dem Willen anderer beugt, ohne es eigentlich zu wollen, dann wird man zu einem Teenager, der ebenfalls nicht Nein sagen kann. Und wenn man nicht aufpasst, ist man schliesslich erwachsen und sagt immer noch ständig «Ja und Amen» zu allem, obwohl es einem nicht gefällt. Wenn Kinder also früh lernen, Nein zu sagen, wenn sie Nein meinen, dann müssen Erwachsene das respektieren und können so auch besser auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen. 

Erwachsene können also von deinen Botschaften auch viel für sich mitnehmen?

Ganz bestimmt. Eltern, Verwandte sowie auch Lehrpersonen und Erzieher:innen sollten sowieso lernen, den Kindern besser zuzuhören. Wenn ein Kind sagt: «Mir hat jemand in die Haare gefasst», sollten sie nicht einfach sagen: «Das ist doch nicht so schlimm»; oder: «er oder sie hat es nicht so gemeint». Stattdessen sollten sie sich Zeit nehmen für eine richtige Unterhaltung. Es ist wichtig, die Kinder zu verstehen und ihre Gefühle ernst zu nehmen. Dadurch können Erwachsene die Kinder dabei unterstützen, mutiger zu werden und für sich einzustehen im Leben. Die Kinder helfen wiederum den Erwachsenen dabei, gewisse Dinge zu reflektieren: Denn Erwachsene machen so etwas ja selbst regelmässig wie zum Beispiel Kindern ungefragt in die Haare zu fassen oder Ähnliches. Und was soll denn ein Kind machen, wenn es nicht gelernt hat, Nein zu sagen? Es fühlt sich dann total unwohl, ist still und lässt es über sich ergehen. Und das geht einfach nicht.

Erzählen dir Kinder bei deinen Lesungen oft von solchen Erfahrungen?

Ja, ich höre immer wieder solche Geschichten. Und dabei geht es nicht nur um Fremde wie mit der Bäuerin im Kinderbuch, sondern es gibt auch oft Verwandtschaft, die Kindern zu nah kommt, obwohl die Kinder das eigentlich nicht möchten. Wir reden dann darüber, wie wichtig es ist, zu sagen (als Beispiel): «Tante, ich mag dich, du bist toll, aber das und das und das möchte ich nicht.» Das dürfen Kinder ruhig lernen, sollten sie sogar. Ich wiederhole mich da gerne und sage den Kindern immer wieder: Wenn ihr etwas nicht möchtet – egal, was das ist – ist es wichtig, Nein zu sagen. Wenn sich Erwachsene mal an ihre Kindheit erinnern, kennen sie alle (unabhängig von der Herkunft etc.) solche Situationen: Wie etwa, dass man sich auf den Schoss vom Onkel setzen und ihm einen Kuss geben musste, obwohl man das gehasst hat. Doch so etwas passiert. Kinder werden oft zu Dingen gedrängt, auch wenn sie es gar nicht wollen. Das Ding ist: Egal, wie klein sie sind, sie sind trotzdem vollwertige Personen, die respektiert werden müssen, und das müssen viele Erwachsene noch lernen. 

Absolut. Du hast auch deine eigenen Erfahrungen im Buch verarbeitet. Ist es dir erstmalig in Deutschland passiert, dass dir fremde Menschen einfach ungefragt in die Haare gefasst haben?

Ja, solche Erfahrungen habe ich tatsächlich bewusst als Heranwachsende mit Migrationshintergrund in Deutschland gemacht. Als Kind in Ghana habe ich das nie erlebt. Das macht keiner. Warum sollten die Leute das machen? Das letzte Mal, dass ich es erlebt habe, ist ehrlich gesagt noch nicht so lang her. Das müsste so vor acht Jahren gewesen sein. Da haben mir erwachsene Leute auf einer Veranstaltung einfach in die Haare gefasst. Meine beiden Söhne erleben das ebenfalls noch. Mittlerweile können sie sich aber wehren. Doch ich selbst hatte als Kind noch nicht die Stimme und war viel zu schüchtern. 

Wann hast du gelernt, Nein zu sagen?

Ich habe es ziemlich spät gelernt, so mit 17 Jahren. Vorher habe ich mir zwar immer gedacht: Das ist mir gerade super unangenehm, doch gesagt habe ich nichts, sondern eher noch mitgelacht, aus Unsicherheit. Nach und nach habe ich dann gelernt zu sagen: «Bleib bitte bei dir, ich möchte das nicht.»

Haben sich denn jemals Personen für dieses Verhalten entschuldigt?

Mir ist das leider selbst nie passiert, dass sich jemand bei mir für diese übergriffige Art entschuldigt hat. Mir war es aus diesem Grund besonders wichtig, einen empathischen Ausgang in der Geschichte des Kinderbuches zu haben. Da gibt es zum Schluss eine Aussprache mit der Bäuerin. Der Bäuerin tut es dann leid. Sie sagt, sie habe es einfach gemacht, weil sie Akomas Haare so schön fand, und es war nicht böse gemeint. Ihr war nicht bewusst, dass sie damit eine Grenze überschritten und Akomas Gefühle verletzt hat. Gleichzeitig erkennt sie jedoch ihren Fehler an und kommt zur Einsicht: Ihr habt natürlich recht, es gehört sich nicht, Menschen einfach so auf den Kopf zu fassen.

Du sagtest mal, dass die Haare die verlängerte Form der Seele sind. Tatsächlich speichern wir teilweise emotionale Erlebnisse oder Eindrücke in unseren Haaren ab. Unsere Haarwurzeln sind zudem direkt mit unserem Blutkreislauf und Nervensystem verbunden. Dadurch dienen sie als Energieleiter und haben eine Antennenfunktion. 

Eben! Das vergessen viele. Es sind nun mal nicht einfach nur Haare, die wir auf dem Kopf und auch am ganzen Körper verteilt haben. Sie sind ein Instrument, unser Kommunikationstool; ob wir das bewusst wahrnehmen oder nicht. Wenn wir auf Menschen treffen, die eine komische Energie ausstrahlen, dann stellen sich ja zum Beispiel unsere Nackenhaare auf; als Warnung oder Schutz. Emotionale Momente, berührende Musik oder auch Angst lösen oft eine Gänsehaut aus. Das ist unser Körper, der über unsere Haare mit uns kommuniziert und das ist etwas sehr Intimes. Gleichzeitig verleihen unsere Haare unserem Selbst Ausdruck. Wir können durch sie verschiedene Facetten von uns zeigen und ausleben. Ich finde es schön, diese Vielfalt zu feiern. Tatsächlich machen die Haare solch einen grossen Unterschied, dass mich manchmal entferntere Bekannte oder Geschäftspartner:innen beim zweiten Treffen fragen: Kennen wir uns? Weil ich mit einer anderen Frisur wie ein neuer Mensch auf sie wirke. Das finde ich superspannend. 

Über die verschiedenen Afro-Hairstyles und deren Geschichte gibt es im Buch auch Infoseiten.

Ja, das ist natürlich ganz, ganz wichtig. Ich muss gestehen, dass viele Sachen selbst für mich komplett neu waren und ich wahnsinnig viel dazulernen durfte. Wir haben alle die Pflicht, uns weiterzubilden und Fragen zu stellen wie: Was ist denn die Wahrheit dahinter? Es ist schon allein für sich selbst wichtig, den Willen zu haben, die Welt zu verstehen und Dinge immer wieder zu hinterfragen und zu reflektieren. Wenn andere Leute dann auch Lust bekommen, darüber noch mehr zu erfahren, umso schöner. Und wenn nicht, dann weiss man zumindest für sich: Okay, ich habe das Wissen und kann dadurch auch bewusster handeln – und das macht natürlich schon mal vieles besser.

Denkst du, dass jede Person jeden Haarstyle tragen darf?

Es ist einfach essentiell, dass man die Geschichte und die Bedeutung dahinter kennt. Klar, am Ende des Tages kann jede:r die Haare so tragen, wie er/sie will. Doch man sollte sich bewusst sein, dass bestimmte Frisuren für manche Menschen nicht nur Frisuren sind, sondern deren Kultur. Und die Leute, die wirklich tagtäglich diese Art von Kultur leben oder diese Art von Haaren haben, müssen sich im Leben immer wieder dafür rechtfertigen oder werden nicht respektiert, ausgegrenzt oder noch schlimmer. Wenn weisse* Menschen hingegen keine Lust mehr darauf haben, machen sie die Haare auf oder ziehen die Klamotten aus, die eine bestimmte Kultur repräsentieren. Man muss anerkennen, dass man als weisse Person nie erleben wird, wie es ist, Schwarz zu sein. Es braucht unbedingt Respekt für die Menschen, die oft wegen ihrer Kultur, Hautfarbe, der Kleidung oder den Hairstyles Rassismus ausgesetzt sind. 

*weiss ist keine Selbstbezeichnung, sondern eine Position im rassistischen System. Weiss sein bedeutet, das Privileg zu haben, keine negativen Rassismuserfahrungen zu machen. Weiss wird kursiv geschrieben, um zu betonen, dass es sich nicht um eine Hautfarbe handelt.

Du hast mal gesagt: «Engagiert euch, verleugnet eure Herkunft nicht, aber schiebt nicht jede Schwierigkeit auf eure schwarze Hautfarbe!»…

Damals gab es wahnsinnig viele junge Leute, die eben genau so etwas geäussert haben wie: Ich kann das und das nicht, weil ich ein Kopftuch trage oder weil ich aus Pakistan bin oder weil ich Schwarz bin. Doch das ist einfach falsch. Nein, im Ernst, ich könnte auch sagen: Ich kann das Buch nicht schreiben, weil ich Schwarz bin und eine Frau noch dazu. Wir können aber nicht alle Schwierigkeiten darauf schieben, dass wir so sind, wie wir sind. Es bringt uns viel mehr, wenn wir alles, was zu uns gehört, akzeptieren und uns gleichzeitig nach vorn bewegen, um das Beste daraus zu machen. Wir können Dinge nicht einfach entschuldigen, nur weil es manchmal schwer ist. Ich möchte damit sagen: Ja, ich weiss, dass du oft abgelehnt wirst, weil du so aussieht, wie du aussiehst, aber das ist trotzdem kein Hinderungsgrund. Mach weiter und gib nicht auf, trotz Angst oder Schwierigkeiten. Verfolge das, was du möchtest, und hab eine gesunde mentale Einstellung zum Leben, zu deinen Träumen und Wünschen.

Nochmal zurück zum Thema Haare: Hast du noch eine Antwort für all die Menschen, die jetzt immer noch denken, dass es okay wäre, fremde Haare anzufassen, wenn sie vorher fragen?

Wer den starken Drang verspürt, kann ruhig fragen. Aber erstens, sollte man sich bewusst sein, dass die Antwort auch «Nein» sein kann und wahrscheinlich «Nein» sein wird. Und zweitens sollte man sich mal fragen, ob es nicht auch einfach falsch ist, so eine Frage überhaupt zu stellen? Ich bin ja kein Hund. Wie würde man es denn selbst finden, wenn jemand fragt: Kann ich dir ins Gesicht fassen? Ich finde es so schön. Klar, es ist immer noch besser, wenn man fragt und ein Nein bekommt, dieses Nein respektiert und versteht, als wenn man es einfach ungefragt macht. 

Zum Schluss: Was würden deine Haare sagen, wenn sie sprechen könnten?

Zu mir würden sie sagen: So schön, dass wir uns immer wieder mit so unterschiedlichen Hairstyles austoben können – mal Afrolocken, mal glatt geföhnt, mal grosse Locken, mal Braids. Wir lieben das! Danke, dass du uns so gut behandelst und uns viel Liebe und Aufmerksamkeit schenkst. Zu anderen würden sie sagen: Finger weg, deine Hand hat auf diesem Kopf nichts verloren! Das ist persönliches Terrain und meine Privatsphäre. Ich will nicht, dass du damit irgendetwas zu tun hast. 

Das Buch ist entweder direkt beim Gratitude Verlag sowie in allen bekannten Buchläden oder auf diversen E-Commerce-Plattformen erhältlich. Bald gibt es auch ein Malbuch sowie ein Hörspiel zum Download! Mehr Infos: https://gratitudeverlag.de

26. März 2024

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