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16 Tage gegen Gewalt an Frauen: «Es ist absurd, aber man hält oft an dem fest, was einen kaputt macht.»

Jedes Jahr findet vom 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, bis zum Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember die schweizweite Präventionskampagne gegen geschlechtsspezifische Gewalt statt. Während der Aktionstage wird durch Podiumsdiskussionen, Workshops, Selbstverteidigungskurse und Filmvorstellungen zum Thema sensibilisiert. Wir waren dabei und sprachen mit einer Frau, die immer sicher war, sich vor Gewalt schützen zu können.

Von Janine Friedrich

Triggerwarnung: Dieser Artikel enthält explizite Beschreibungen von körperlicher, seelischer und sexualisierter Gewalt und deren Folgen. Die Auseinandersetzung damit kann bei manchen Personen unangenehme Reaktionen oder Flashbacks auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.

Die feministische Friedensorganisation Frieda (ehemals cfd) leistet auch 2023 – wie bereits seit 16 Jahren – wichtige Sensibilisierungs- und Präventionsarbeit im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Die Kampagne bezieht sich auf die übermässige Gewaltbetroffenheit von Frauen und die übermässige Gewaltausübung durch Männer (laut binär ausgelegten Statistiken). Der Begriff «geschlechtsspezifische Gewalt» soll betonen, dass nicht nur Frauen, sondern auch Menschen mit Transidentität und Menschen ausserhalb binärer Geschlechtervorstellungen betroffen sind. Die geschlechtsspezifische Komponente ist bei Gewalttaten in jedem Fall zu berücksichtigen, da nur so ihre Wurzeln beleuchtet werden können: eine ungleiche Macht- und Dominanzverteilung, fehlende Gleichstellung und patriarchale Strukturen. Da alle vier Tage ein Artikel veröffentlicht wird, der Opfer und Tatperson auf die gleiche Ebene stellt, genau diese Machtverhältnisse also nicht thematisiert, ist es besonders wichtig, solche Zusammenhänge in den Medien sichtbar zu machen. 

Das diesjährige Fokusthema der Kampagne ist psychische Gewalt, welche häufig eine Vorstufe von körperlicher Gewalt oder ein Teil davon ist. Vor allem in Partnerschaften ist diese Art von Gewalt weit verbreitet, sie kann jedoch überall auftreten. Psychische Gewalt bezeichnet Angriffe, die auf die Gefühle, die Gedanken, die Selbstsicherheit und das Selbstwertgefühl eines Menschen abzielen. Das kann unterschiedlichste Formen annehmen: abwertende Äusserungen, Herabsetzung, Erzeugen von Schuldgefühlen, Gaslighting, wiederholte Verbote, kontrollierendes oder aggressives Verhalten, Stalking, verbale oder körperliche Drohungen usw. Macht, Kontrolle, Abhängigkeit und Isolation werden hierbei von der Tatperson als Mittel genutzt, um ihr Opfer in dem ungesunden Beziehungsgefüge gefangen zu halten, weswegen es für Betroffene sehr schwierig ist, sich daraus zu lösen. Psychische Gewalt trägt zur Aufrechterhaltung und zum Ausbau ungleicher Machtverhältnisse bei. Andersherum stellt eine ungleiche Machtverteilung den Nährboden für psychische und physische Gewalt dar.

Die gewaltausübende Person kann Lücken im System nutzen, um weiterhin Gewalt auszuüben, da psychische Gewalt – obwohl sie strafbar ist – strafrechtlich schwer fassbar und oft schwer beweisbar ist. Für einige Formen, wie zum Beispiel das Stalking, gibt es in der Schweiz noch keine bestehenden Straftatbestände, weshalb 2019 gefordert wurde, es explizit unter Strafe zu stellen. Psychische Gewalt kann – auch wenn sie oft schleichend beginnt und unsichtbar ist – ernstzunehmende, teils sogar lebensgefährliche Folgen nach sich ziehen, die für das Umfeld der gewaltbetroffenen Person in vielen Fällen schwer erkennbar sind.

Im Rahmen der Kampagnen-Aktionstage trafen wir auf eine Frau, die selbst Erfahrungen mit psychischer Gewalt in einer Paarbeziehung gemacht hat und bereit war, mit uns darüber zu sprechen. Sie ist Ende dreissig und arbeitet in einem Schweizer Spital. Damit ihre Geschichte so realitätsnah wie möglich abgebildet werden kann, wird ihr Name nicht erwähnt. Sie beschreibt ihren Ex-Partner als einen sehr dominanten und bestimmenden Mann. Jemand, der stets dafür sorgte, die Kontrolle zu behalten. Dabei war er nicht immer kühl, sondern hatte auch eine warme und liebevolle Art, mit der er ihr, wenn auch nur sehr gemässigt, Zuneigung und Geborgenheit schenken konnte. 

Wie schaust du heute auf eure Beziehung zurück? 

Ich sehe die damalige Beziehung jetzt als das, was sie war: ein Abhängigkeitsverhältnis. Die Machtverteilung war von Anfang an klar: Die Interdependenz, die eine gesunde und funktionierende Paarbeziehung auszeichnet, war bei uns nie vorhanden. Er stellte sicher, dass ich mich ihm unterordne, und tat ich es, bekam ich, sozusagen als Belohnung, seine Liebe. Und ja, die wollte ich zu der Zeit. Anfangs kam es mir ehrlich gesagt sehr gelegen, dass er im Privaten für mich die ein oder andere Sache mitentschied, da ich in meinem Job täglich sehr viele Entscheidungen treffen muss und dankbar war, diese führende Position für eine Weile abgeben zu können. Allerdings war es nicht nur die ein oder andere Sache, die er mir «abnahm».

Sondern?

Er hat allein entschieden, wann, wie oft und wie lange wir uns sehen, wo wir uns treffen, wohin wir gehen, was wir unternehmen, und auch, ob noch jemand anderes dabei ist. Die Frage, ob das für mich in Ordnung war, stellte er nie. Es war eine Aufforderung, eine Erlaubnis oder eine Einladung, über die ich froh sein durfte. Das machte er mir klar. Er erwartete, dass ich mich seinem Zeitplan anpasse, was bedeutete, dass ich Freunden, für die ich sowieso schon berufsbedingt wenig Zeit hatte, absagen musste. Was ich zunächst als Hilfsbereitschaft seinerseits wahrnahm, war in Wahrheit Kontrolle über mich und mein Leben – so begann es, ganz subtil, und steigerte sich langsam.

Und wie ging es weiter?

Er kritisierte, wie ich mich vor anderen verhielt, auch im Beisein dieser Personen; er schrieb mir immer wieder Dinge vor, drängte mir mit seiner manipulativen Art Entscheidungen auf, verunsicherte mich, gab mir die Schuld für Streits. Meist hat er unterbunden, dass ich überhaupt etwas sage. Wenn ich tatsächlich mal meine Grenzen setzen wollte oder meine Meinung änderte, wurde er sauer, machte mich verbal runter und verdeutlichte mir, dass das nicht gehe. Egal bei was, er beharrte auf sein Recht. Wie sehr sich mein Innerstes eigentlich gegen ihn wehrte, zeigte sich irgendwann in meiner Körpersprache: Wenn wir uns mit befreundeten Paaren trafen, die eng beieinander sassen und liebevoll miteinander umgingen, was normal und natürlich sein sollte, liess ich zwischen meinem Partner und mir einen halben Meter Platz. Etwas in mir wollte bereits zeigen, dass ich ihm absolut nicht nahe sein wollte. Bemerkten das unsere Freunde und machten einen lustigen Kommentar zu dem Riesenabstand zwischen uns, zog er mich zu sich heran und sagte vorwurfsvoll: Ehrlich, warum sitzt du denn bitte so weit weg? Ich will dich direkt bei mir haben. Eben, er wollte das. 

Du hast also bereits gespürt, dass etwas nicht stimmt.

Ja, unterschwellig. Nur habe ich sein Verhalten sehr lange vor mir selbst gerechtfertigt und hatte die surreale Hoffnung, dass alles besser würde, wenn ich mich seinem Willen anpasse. Er zeigte mir schliesslich, dass ich durch meine Unterordnung vermeintlich geliebt wurde. Das war emotionale Erpressung; er wusste ganz genau, was er tat. Wenn ich jetzt darauf zurückblicke, weiss ich, dass ich meine tatsächliche innere Gefühlslage damals verdrängt habe, obwohl ich die extreme Dysbalance gespürt habe. Solange jedoch sehr liebevolle Gesten die psychische (und später auch physische) Gewalt immer wieder ablösten, ertrug ich sie. Ich wusste schliesslich, dass es immer wieder scheinbar gut würde, und blendete das Schlechte dazwischen aus. Es ist absurd, aber man hält oft an dem fest, was einen kaputt macht. 

Das heisst, irgendwann kam zur psychischen auch körperliche Gewalt dazu? 

Ja, viel später in der Beziehung. Irgendwann sagte er, dass er mich beim Sex schlagen wolle – direkt ins Gesicht –, weil er mich mit roten Wangen schöner fände. Ich wollte das auf gar keinen Fall, aber er hatte seine Argumente, mit denen er mich manipulierte und überredete: Er meinte, dass ich gar nicht wissen könne, ob es mir nicht auch gefällt, und es deshalb probieren solle; ich sollte ihm den Wunsch erfüllen. Ausserdem sei es kein richtiges Schlagen, sagte er, denn er würde es mit viel Liebe und Respekt tun. Eine extrem gefährliche Aussage. Ich war so verblendet, dass ich es zuliess.

Er hat dir also eingeredet, dass das, was er tat, gar keine richtige körperliche Gewalt ist.

Ja. Ich konnte die Freude, die es in ihm auslöste, wenn er mir wehtat, in seinen Augen sehen und das hatte natürlich rein gar nichts mit Liebe zu tun. Einmal schlug er mich so doll, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Er lachte und meinte, dass es überhaupt nicht doll gewesen sei –, weil er das ja einfach für mich entscheiden konnte. Dass für meine wirklichen Gefühle kein Platz war, machte er mir sehr gut ohne Worte klar: Er umarmte mich und wir schliefen weiter miteinander als sei das gerade nicht passiert. Besser gesagt, schlief er mit mir, während ich die Wand anschaute und weiterhin mit aller Kraft versuchte, meine Tränen und meine aufkommende Panik zu unterdrücken. Es war schlimm. Wenn ich mir heute vorstelle, wie ich in so einer Situation reagieren würde, frage ich mich, warum ich das damals nicht konnte. 

Hast du darauf eine Antwort?

Ich weiss es noch nicht: Angst? Alte Muster? Keine Kraft? Wohl von allem etwas. Fakt ist: Er hat seine Macht ausgenutzt, um mich in eine unterlegene Position zu drängen, doch für mein eigenes Empowerment reicht es mir dennoch nicht, mich ausschliesslich auf meine Opferrolle zu berufen. Das würde mir in Zukunft nicht helfen. Irgendwie muss man sich gleichzeitig als Opfer in der Situation anerkennen und Verantwortung für sich selbst übernehmen. Das ist schwierig. Selbstverständlich hat kein Mensch das Recht, einen anderen schlecht zu behandeln oder ihm zu schaden, auch wenn dieser das, aus welchen Gründen auch immer, mit sich machen lässt. Einige Fragen konnte ich mir immer noch nicht beantworten: Warum habe ich damals keinen Handlungsspielraum für mich selbst gesehen? Warum konnte ich mich nicht eher von ihm lösen? Warum habe ich so lange geschwiegen? Wie konnte ich so etwas zulassen? Die hohe Kunst besteht darin, mich selbst im Nachhinein nicht dafür herabzusetzen oder mir die Schuld zu geben. Eigentlich war ich mir immer sicher, mich als starke, erfolgreiche Frau vor solch traumatischen Erfahrungen schützen zu können. 

Klingt, als fehle es da noch an Awareness auf anderen Ebenen.

Das glaube ich auch. Immer, wenn ich Geschichten hörte, bei denen Frauen psychisch oder physisch Gewalt durch einen Mann erlebt hatten, dachte ich: Warum lassen diese Frauen das zu? Warum holen sie sich keine Hilfe? Seit Jahren gibt es immer mehr Bewusstsein und Prävention zum Thema, wie kann so etwas überhaupt noch passieren? Doch, wie gesagt, habe auch ich solche Erfahrungen machen müssen und mich erst einige Jahre nach dem tatsächlichen Geschehen und lange nach der Trennung an eine der kostenlosen und anonymen Beratungsstellen gewandt. Natürlich macht es am meisten Sinn, sich inmitten einer solchen Situation Hilfe zu holen. Aber das ist nicht so einfach, wie alle denken – das weiss ich jetzt auch.

Woran liegt das deiner Meinung nach?

Wenn man es selbst nicht sieht, nicht sehen will, es schön redet, es verdrängt, vielleicht auch aus Angst vor dem Partner sein eigenes Verhalten anpasst oder gar nicht sicher ist, wo Gewalt anfängt –, dann gibt es kein wahrnehmbares Problem. Wenn man sich nicht bewusst ist, dass man sich in einer ungesunden Partnerschaftsdynamik oder gar in einem gefährlichen Abhängigkeitsverhältnis befindet, wofür sollte man sich dann Hilfe holen? Selbst, wenn man es merkt, heisst das noch lange nicht, dass man mit jemandem darüber redet oder sich Hilfe holt. Es lohnt sich also, im Freundes- und Familienkreis mal genauer hinzuhören, auf subtile Zeichen zu achten, lieber einmal mehr nachzufragen und im Allgemeinen auf unterschiedliche Lösungswege für solche Situationen aufmerksam zu machen. Es ist schön, dass es so viele Initiativen und Beratungsstellen gibt, aber die Aufklärung darüber hat noch immer zu wenig Berührungsfläche mit der Gesamtbevölkerung. Vielleicht auch, weil viele denken, ihnen passiert so etwas nicht. Deshalb hoffe ich, hiermit zum gesellschaftlichen Diskurs beitragen zu können.

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13. Dezember 2023

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