Die dichte Wolkendecke presst den Smog der Hohlstrasse an die Häuserfassaden. Die Umgebung kleidet sich grau-schwarz. Die Gehsteige werden leerer und abgesehen vom anstehenden Konsumstress kurz vor den Festtagen wird sich die ungewohnte Stille konsequent durch die Wintermonate ziehen.
Vor einigen Tagen hat die Kälte den ersten Stadt-Zürcher Schnee geboren. Die Lichtreflexion darin hebt meine Stimmung bemerkenswert an. Mich zieht es nach draussen und; schon ändert sich das Wetter wieder. Grau.
Ich spaziere durch das Quartier, in dem ich aufgewachsen bin und der Nieselregen findet einen Weg, mir in den Kragen und eiskalt den Rücken herunterzulaufen. Ich passiere die Schindelhäuser. Begleitet vom Geruch der auf Hochtouren laufenden Holzheizungen. Mein Handy surrt. Teseo antwortet auf meine WhatsApp-Nachricht, in der ich mich über die aktuell fehlende Arbeit in der Filmbranche enerviere, mit einem Wort: «Entschleunigung». Mag sein, der Winter wirkt mittlerweile entschleunigend. Die Menschen bewegen sich langsamer, denken langsamer. In meinem Umfeld schämt man sich leise für nicht verwirklichte Vorsätze. Einige reflektieren darüber, wie man diese im nächsten Jahr konsequenter angehen könnte. War das immer so? Ich beginne mich langsam, aber sicher zu erinnern. An die turbulenten, sehr schnell vorüberziehenden Winter meiner Kindheit. Warme und weisse Winter. Actionreiche Winter. Teil vier meiner Jahreszeitenkolumnen.
Alles andere als entschleunigt waren die grossen Schneeballschlachten auf dem Pausenhof. Insbesondere auch die Vorfreude darauf. Oft bin ich bereits am Mittagstisch im Hort ungeduldig auf meinem Stuhl hin und her gerutscht, im Wissen um die bevorstehende chirurgisch genau geplante Schneeball-Konfrontation mit den grossen Sechstklässler:innen. Das elektrisierende Gefühl des Adrenalins beim Werfen, Ausweichen und Umherspringen im Schnee ist schwer zu beschreiben. Glück. Freude. Tempo. Ziel Nummer eins: Das Gesicht des Gegners zu treffen. Das Verpassen einer blutenden Nase. Dass man dabei selbst Schmerz zugefügt bekommen könnte, rundete das Erlebnis ab. Die erste Auseinandersetzung mit Risiko-Assessment für viele.
Manchmal, wenn der Mut gross war, traute man sich, einen kleinen Stein in die Schneeballkonstruktion einzubauen. Jugendsünden, die meist in ein Elterngespräch mündeten. Die Turbulenz liess keinen Platz für die Langeweile.
Irgendwie lief früher im Winter immer was. Von wilden Schlittenrennen den Uetliberg herunter, über eiskalte Matchpartien des FC Zürichs im Letzigrund bis hin zu Mutproben beim Kerzenziehen, wobei man sich hässliche Verbrennungen an der Hand zufügen konnte. Viele Eindrücke. Der Winter ging in meiner Wahrnehmung wahnsinnig schnell vorüber. Ich zählte die Tage aktiv mit, die es dauerte bis zum nächsten Advent, bis ich eine neue Kerze anzünden durfte. Oder bis zum nächsten Türchen des Adventskalenders – wir teilten ihn durch drei–, das es zu öffnen galt. Zeitliches Bewusstsein.
Kurz vor dem Besuch des Samichlaus wurden dann in Windeseile noch gute Taten vollbracht, in der Hoffnung, sein Urteil beschwichtigen zu können.
Am jährlichen Weihnachtssingen gestand man heimliche Liebschaften, reichte kleine Zettelchen durch die Ränge der Kirchenbänke und heckte Pläne für die kommenden Schulferien aus. Oder schraubte die Mantelhalterungen an der vorderen Bankreihe ab und falsch herum wieder an. Sorry, Herr Pfarrer.
Mein Spaziergang endet in der Nähe des Hardplatzes. In meiner aktuellen Wohnung. Ich ziehe meine Kleidergarnitur aus, setze mich im Wohnzimmer auf die Couch und lasse meinen Blick wandern.
Der Raum ist zu klein für einen Weihnachtsbaum. Anstelle einer Fichte steht eine Vintage Filmleuchte in der Wohnzimmerecke. Heute riecht es in meiner Wohnung nach kaltem Rauch, den es unter der Balkontür in die Wärme hereinzieht. Der Duft nach frisch gebackenen Guetzli bleibt aus, denn diese müsste ich schon selbst backen. Die vorrätige Energie stecke ich heute in die Arbeitsplanung. Und für mögliche Schlittenabenteuer bräuchte ich neue gute Winterschuhe.
Entschleunigung. Die wilden Schneeballschlachten wurden durch langes Ausschlafen ersetzt. Und damit kann ich leben.
Ich mache mir einen Tee (ohne Schuss – Entschleunigung), wasche mir das Gesicht mit warmem Wasser, um die eingefrorenen Barthaare aufzutauen, sinniere noch ein wenig über die meine sich stetig verändernde Wahrnehmung und ziehe den Rollkragen meines Pullis hoch. Schon spannend, was so ein Jahr mit einem machen kann.
Auf ein Neues!
11. Dezember 2023