Früher schienen die Menschen nicht so ein Problem damit zu haben, zu gewissen Anlässen die Arbeit liegen zu lassen. Vor allem das Jahresende mit Weihnachten und Neujahr galt seit jeher als arbeitsfreie Zeit. Doch die christlichen Feiertage scheinen mittlerweile immer seltener ein religiöses Fest und immer mehr eine bürgerliche Feier zu sein. Daher ist diese Zeit auch nicht mehr ganz so arbeitsfrei, wie sie es früher einmal war. Und die Sache mit der «Arbeit auch mal liegen lassen», das müssen wir alle gerade neu lernen. Da kommen uns die Raunächte sehr gelegen. Die Bräuche, Mythen und Verbote um die Raunächte sind von Region zu Region etwas verschieden. Doch gerade bei den Verboten lässt sich eine universelle Intention erkennen: Sie wollen bezwecken, dass wir zur Ruhe kommen. Die meisten Verbote in dieser Zeit zwischen den Jahren beziehen sich daher auf Tätigkeiten, die etwas mit Arbeit zu tun haben. Jegliche Arbeit, die es liegenzulassen gilt.
Sollten wir uns also an die altertümlichen Verbote halten, und wenn ja, warum? Etwa aus eiserner Überzeugung, aus Respekt vor übernatürlichen Kräften? Ist es nur ein irrsinniger Aberglaube, ein gut gemeinter Ratschlag der Raunachts-Geister oder einfach noch Omas und Opas Glaube, den wir übernommen haben? Oder gibt es womöglich sogar eine zeitgemässe Sicht der Dinge, die den alten Mythen auf neue Art und Weise gerecht wird?
Es sei gesagt, dass sich der genaue Ursprung der Raunächte nicht ganz zurückverfolgen lässt. Kalendarisch betrachtet wird vermutet, dass die Raunächte im Zusammenhang mit dem germanischen Mondkalender stehen, welcher die zwölf Mondmonate mit insgesamt 354 Tagen und acht Stunden pro Jahr zählt. Er unterscheidet sich durch die zwölf Lunationen mit je 29,5 Tagen zum heutigen, weltweit am meisten gebrauchten 365-tägigen gregorianischen Sonnenkalender, der 1582 entstand und einen festen Jahreswechsel mit sich brachte. Die jährliche Differenz zwischen Mondkalender und dem solaren Jahr beträgt zwölf Nächte beziehungsweise elf Tage. Zufall? Sind diese zwölf Nächte, die wir mehr haben, wenn wir uns nach dem Umlauf um die Sonne statt nach den Mondzyklen richten, die mystischen Raunächte? Das ist bis heute nicht ganz geklärt. Und scheinbar spielt es gar keine so grosse Rolle, woher die Raunächte nun stammen. Fakt ist: Das Brauchtum wurde über Jahrhunderte weitergetragen und erreichte so auch meine Grosseltern väterlicherseits.
Schon als ich klein war, erklärten sie mir auf geheimnisvolle Weise, was die zwölf Nächte sind: nämlich die Zeit zwischen den Jahren, in der ganz viele Dinge zu unterlassen sind. Wäsche waschen, Wäsche aufhängen, nähen, arbeiten – alles strikt verboten! «Sonst passieren schlimme Dinge».
Und da sie auch noch sehr überzeugende Geschichten von ehemaligen Nachbar:innen hinzufügten, die zu belegen schienen, dass wirklich etwas Schlimmes passiert, wenn man sich nicht an diese Verbote hält, zweifelte ich es auch nicht an. Oma und Opa wissen schon, von was sie reden. Das Ding war halt: Ich als Kind war eh fein raus. Das waren Verbote für eine Welt, mit der ich noch lange nichts zu tun hatte. Ich nahm an, dass alle Erwachsenen diese Regeln sowieso kannten und befolgten. Also brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, dass «schlimme Dinge passieren». Eine supergute Schlussfolgerung einer Siebenjährigen, wie ich heute finde. Doch irgendwann war ich dann in dieser Welt. In einer Welt, in der ich etwas waschen musste, und zwar in einer Zeit zwischen den Jahren – und stellte fest, dass mein Unterbewusstsein ein sehr gutes Gedächtnis hat. Es erinnerte mich an die Stories meiner Grosseltern. «Würd ich nicht machen in den zwölf Nächten», ermahnte mich meine innere Stimme, als ich die Wäschetrommel befüllte. So ein Quatsch, dachte ich und nahm das Waschmittel in die Hand. «Lass es lieber. Weisst du nicht mehr, was passiert ist, als…» Okay, schon gut! Das waren dann doch einige unignorierbare Gedanken. Die Waschmaschine blieb also tatsächlich aus und das bleibt sie – in der Zeit der Raunächte – bis heute. Irrsinnig? Vielleicht. Aberglaube? Möglich. Oder halte ich mich daran, weil ich Oma und Opa glaube? Kann gut sein.
Einen tieferen Sinn und eine zeitgemässe Sicht auf die Raunächte entdeckte ich erst im letzten Jahr. Da Spiritualität in meinem Leben schon länger eine immer grössere Rolle spielt und auch schon die ein oder anderen Rituale Einzug in meinen Alltag gefunden haben, befasste ich mich auch intensiver mit den Raunächten. Ich entdeckte, dass sie eine wundervolle Zeit zum Reflektieren, Wünsche manifestieren und zum Runterfahren sind. Wenn sie denn richtig genutzt werden. Ausserdem wurde mir klar, dass die Verbote der Raunächte es tatsächlich gut mit uns meinen. Denn der Punkt ist der: Egal, ob die Raunächte einem Aberglaube entspringen oder nicht, sie helfen mir in der Zeit zwischen den Jahren die Arbeit ganz bewusst «mal liegen zu lassen». Und das sollten wir alle tun; jegliche Arbeiten ganz bewusst mal liegen lassen. Mindestens einmal im Jahr. Und dann auch nicht nur Tätigkeiten, die den Haushalt oder den Job betreffen – warum nicht auch einfach mal das Handy weglegen, den Laptop oder Fernseher auslassen, mehr spazieren gehen oder einfach nur «sein» mit Kuscheldecke und Wein (oder ohne). Und anstatt das Licht anzuschalten, können wir ein paar Kerzen anzünden und in dieser dunklen Jahreszeit zurück zu uns selbst finden.
Brauchtümer mögen uns Dinge verbieten, aber sie geben uns Menschen gleichzeitig auch Raum für mehr Achtsamkeit – zum Innehalten, Nachdenken und bewusster Handeln. Dinge, die in unserer schnelllebigen Zeit oftmals zu kurz kommen. Deshalb kann das Aufrechterhalten, Neuinterpretieren und Integrieren solcher alten Bräuche für unsere heutige Welt als grosse Chance betrachtet werden. Denn wenn es uns heute an Zeit zum Abschalten, Ausruhen, Zurückziehen und Auf-sich-selbst-besinnen mangelt, dann brauchen wir diese am allermeisten.
14. Dezember 2022