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Warum schneiden wir Grimassen? Eine philosophische Betrachtung

Sie passieren einfach. Auf Fotos, Videos, vorm Spiegel oder auch nicht, im Zusammensein mit Menschen oder alleine. Meine Grimassenpalette ist vielfältig und bis vor Kurzem war mir nicht bewusst, dass das schon immer so war. Alte, digitalisierte Kassettenvideos von 1997 erinnern mich daran, während ich nach einem Tiefsinn in dieser Albernheit suche.

Von Janine Friedrich

Normale Gesichtsausdrücke sucht man auf Fotos von mir oft vergebens. Auf alten Videos aus Kindertagen ebenso, wie ich kürzlich feststellte. Mein vierjähriges Ich und alle jüngeren und älteren Versionen von mir sind auf einmal sehr lebendig. Auch meine Opas und mein Onkel sind für einen Moment wieder lebendig und ihre Stimmen so nah. Alles ist so echt, als passiert es jetzt gerade, in einer anderen Dimension. Die Kommentare und die Momentaufnahmen sind goldwert.

Was mir beim Anschauen dieser Videos auffällt: Schon immer mache ich viel lieber Grimassen und meine, es auch gut zu können; falls es überhaupt etwas ist, was man gut können kann. Es ist beeindruckend, wie viele extrem unterschiedliche Gesichter ich herbeizaubern kann. Für mich ist es eine Art Selbstausdruck; eine nicht-endende Selbstentdeckung der noch in mir schlummernden Facetten. Noch nie hab ich darüber nachgedacht, ob hinter dieser Angewohnheit eine tieferliegende Bedeutung steckt. Spricht vielleicht durch manche Grimassen, die ich heute mache, mein inneres Kind? Die meiste Zeit – glaube ich – verziehe ich mein Gesicht einfach aus Spass, zur Belustigung für mich selbst oder für andere. Wobei «andere» in diesem Szenario meist nur Menschen sind, in deren Gegenwart ich mich wohl fühle; bei denen ich albern sein kann und will. Grimassen sind ein Loslassen von der Ernsthaftigkeit des Lebens; womöglich eine Erinnerung daran, wie heilsam Lachen ist und dass es in jeder Situation etwas zum Lachen gibt – gerade in Momenten der Hoffnungslosigkeit und Schwere oder beim Durchleben von unbequemeren Gefühlen. Mit Sicherheit waren und sind die Grimassen auch für mich irgendwie Selbsttherapie, eine Art Bewältigungsstrategie in unterschiedlichen Lebensphasen, der ich mir bis zu meiner Recherche noch nicht bewusst war.

Grimassen können nämlich zutiefst therapeutisch wirken: Sie sind ein Schutzreflex oder gar ein Verteidigungsmechanismus, der dazu dient, Ereignisse körperlich zu verarbeiten. Diese bewussten oder unbewussten Fratzen geben unangenehmen Gefühlen und Erlebnissen, für die einem womöglich (noch) die Worte fehlen, mimisch einen Raum. Doch nicht nur das: Sie haben sogar die Kraft, sie zu transformieren. Das stellte bereits der französische Philosoph Jean-Paul Sartre (1905-1980) fest. In der deutschen Fassung seiner Autobiografie «Die Wörter» heisst es: «Indem sie (die Grimassen) mein Unglück aufs Äusserste steigerten, befreiten sie mich davon.»

Für Sartre gehörte das Grimassenschneiden vor dem Spiegel schon als Kind zur Psychohygiene. Durch die übertriebenen Gesichtsausdrücke bewältigte er vor allem negative und demütigende Erfahrungen. So holte er sich die eigene Macht über die Situation zurück und konnte schambehaftete Gefühle durch das kurzweilige Entstellen des eigenen Gesichts in Selbstmitgefühl verwandeln. Wer hätte gedacht, dass man liebevolle Akzeptanz auch kultivieren kann, indem man sich unansehnlicher macht.

Grimassen sind also ein Ausdruck unserer Fähigkeit zur Selbstreflexion. Wir drücken durch sie nicht nur schmerzhafte, sondern auch freudvolle Empfindungen aus. Doch Grimassen sind nicht immer nur ein Ausdruck bereits präsenter Emotionen. Sie funktionieren wie alle Gesichtsausdrücke auch andersherum und können Gefühle erst hervorrufen. Trotz der vielen verschiedenen Emotionen, die wir tagtäglich unter anderem über unsere Gesichtszüge ausdrücken, dominiert bei uns allen zumeist ein neutrales Gesicht. Diese weniger ausdrucksstarke Miene geht aus einer Entspanntheit hervor und ist das absolute Gegenteil einer Grimasse. Grimassen lassen unser sonst lebendiges, bewegtes Gesicht für einen Moment gefrieren. Der französische Philosoph Henri Bergson (1859-1941), schrieb in seinem berühmten Essay «Das Lachen» aus dem Jahr 1900: «Ein Gesichtsausdruck wird also lächerlich sein, wenn er uns an etwas Starres, sozusagen Geronnenes in der allgemeinen Flüssigkeit und Beweglichkeit der Gesichtszüge erinnert. […] Aber ein komischer Gesichtsausdruck verspricht nicht mehr, als er unmittelbar gibt. Er ist eine einzige eindeutige Grimasse. Man möchte sagen, das ganze seelische Leben des Menschen sei in diesen Linien versteinert.»

Trotz ihrer Steife im Ausdruck, haben Grimassen irgendwie etwas sehr Lebendiges. Wenn wir uns der eigenen Unkontrolliertheit hingeben, können wir durch das Schneiden von Grimassen unsere Gesichter auf komische, lustige, unästhetische, irritierende, gar gruselige Weise entstellen. Diese kurzweiligen Fratzen  entsprechen dann nicht mehr der uns bekannten, gewöhnlichen Norm und bringen uns genau deshalb oft zum Lachen. Egal, ob wir es nun mit Absicht tun oder nicht; wir überschreiten mit Grimassen definitiv gewisse Grenzen, hebeln Schönheitsideale aus und verstossen sogar gegen gesellschaftliche Verhaltensregeln, wie etwa, wenn wir unsere Zunge herausstrecken. Das wird zwar oft als Respektlosigkeit gewertet; doch was, wenn es einfach ein Versuch ist, die Grenzen, die unser Körper zum Aussen zieht, zu überschreiten? Ein Versuch, das Innere mit der Welt draussen in Verbindung zu bringen? Ein Versuch, ohne Worte und über alle Sprachbarrieren hinweg zu kommunizieren, dass wir mehr sind als das offensichtlich Sichtbare?

Sogar im Mittelalter gab es Feste und Aufführungen, bei denen die Grimasse im Vordergrund stand und ebenfalls Grenzen überschritt. Sie diente damals nicht nur zur Belustigung des Volkes, sondern war sogar überaus politisch. Das Fratzenschneiden als parodistische Form der Kritik konnte die Machtverhältnisse in der Gesellschaft entlarven. Laut dem Literaturwissenschaftler und Kunsttheoretiker Michail M. Bachtin waren die Grimassen damals ein offener und direkter Angriff auf die Machthaber sowie das gesamte gesellschaftliche Konstrukt. Für die zuschauende Bevölkerung boten solche Anlässe eine Gelegenheit, um ihren Ärger und ihrer Meinung bedenkenlos Raum zu geben und schliesslich gemeinsam zu lachen. Grimassen hatten demnach auch hier die Kraft, negativen Gefühlen die Schwere zu nehmen und wieder etwas mehr Leichtigkeit walten zu lassen. Zu viel Ärger ist sowieso nicht gut für die Gesichtszüge.  

Das weiss man heute vom Gesichtsyoga. Viele Übungen beinhalten Grimassen, weil sie wie eine Verjüngungskur wirken: Sie straffen das Gewebe und fördern die Durchblutung, indem Muskeln bewegt, angespannt und wieder gelockert werden. Jetzt macht es auch Sinn, dass ich immer jünger geschätzt werde. 

Wer hätte gedacht, dass komische Grimassen so viel aufmachen und dass sie so viele Vorteile für Körper, Geist und Seele mit sich bringen. Grimassen sind ein aktives Ausbrechen aus der Normalität und Selbstbeherrschung. Sie feiern die Komplexität, Ambivalenz und Ambiguität der inneren Gefühlswelt, über die wir uns mit der Welt, die uns umgibt, und mit anderen Menschen verbinden. Wenn wir Grimassen schneiden, sind wir sehr tief im Hier und Jetzt verankert – und das bedeutet immer auch, dass wir die eigene Vergänglichkeit und die Vergänglichkeit des Lebens akzeptieren. Das Leben, welches ein bunter Mix aus vielfältigen Emotionen und Erfahrungen, Hochs und Tiefs, lichtvollen sowie dunklen Momenten ist. Nehmen wir es so an und drücken es aus; drücken uns aus, am besten mit lächerlichen Grimassen, über die wir und andere lachen können. Das sollten wir alle schliesslich viel öfters tun!

09. Juli 2023

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