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Unabhängigkeit: Ziel oder Falle?

Unabhängigkeit ist ein vermeintlich schönes, positiv konnotiertes und gern gelebtes Wort. Besonders bei jungen Menschen ist Unabhängigkeit erstrebenswert und gesucht. Doch in einer Gesellschaft sind die wenigsten Menschen komplett unabhängig, und das ist gut so. Wieso der Wunsch nach (kompletter) Unabhängigkeit unrealistisch ist.

Von Sina Schmid

«Autonom», «selbstständig», «selbstbestimmt» aber auch «allein», «getrennt» und «für sich bestehend» sind laut Oxford Languages Synonyme für das Wort «unabhängig». Das ist sehr anschaulich für das zweischneidige Schwert der Unabhängigkeit.

Jedoch müssen wir unterscheiden. Finanzielle Unabhängigkeit ist meistens erstrebenswert. Geld macht einiges komplizierter und verändert Dynamiken, ob in Freundschaften oder Beziehungen. Finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht eine gewisse Selbstbestimmung und fördert Sicherheit.

Komplette Unabhängigkeit aber ist in einer Gesellschaft, sowie gesunden und gut funktionierenden platonischen oder romantischen Beziehung eine Illusion.

Die irische Autorin Sally Rooney meinte in einem Interview, dass Unabhängigkeit ganz grundsätzlich unmöglich und gar unnötig ist. Unmöglich, weil die meisten Menschen, welche einer Gesellschaft angehören, von vielem abhängig sind. Wir sind abhängig von der Migros (oder Coop), von den Landwirt:innen nebenan, von den unzähligen Modegeschäften, von Busfahrer:innen und so weiter. Auch das ist Abhängigkeit.

Emotional können wir nie ganz unabhängig sein, wenn wir gleichgestellte Beziehungspartner:innen sind. Das Wohl unserer Mitmenschen sollte gleich viel wert sein, wie das eigene. Manchmal dürfen die Bedürfnisse unserer Liebsten vor den eigenen stehen, in anderen Situationen stehen dann wieder die eigenen im Vordergrund. Dieses Wechselspiel ist ganz grundsätzlich nicht mit Unabhängigkeit vereinbar.

Menschen brauchen Beziehungen. Gefühle der Sicherheit, Liebe, Zuneigung, Zugehörigkeit und Nähe sind Bedürfnisse, welche in einer übertriebenen Unabhängigkeit nicht wirklich realistisch sind. Gleichzeitig macht Abhängigkeit verletzlich und oft ein wenig Angst. Früh wird gewarnt, dass wir uns nicht von anderen Menschen abhängig machen dürfen.

Auf den Sozialen Medien kursieren Selbst-Hilfe-Posts, dass wir für unser eigenes Glück verantwortlich sind, und dieses nicht von anderen Menschen abhängig gemacht werden darf. Klar, diese Aussage hat viel Wahres in sich. Im Sinne: es gibt die Eigenverantwortung. Gleichzeitig ist es als Teil einer Gesellschaft wichtig, dass uns die Gefühle, Erfahrungen und Leben anderer nicht egal sind.

In der englischen Sprache lässt sich dies ein wenig einfacher ausdrücken. Zum einen gibt es die Redewendung, dass Beziehungen eine «two-way-street» sind, also Zweibahnstrasse. Alle Beziehungen, ob geschäftlich, freundschaftlich oder romantisch existieren in einer doppelspurigen Abhängigkeit. Eine One-Way-Street, also Einbahnstrasse, wäre die Unabhängigkeit.

Zum anderen können die englischen Begriffe für Abhängigkeit und Unabhängigkeit die Lösung für das Ganze besser verarbeiten: weder independence, also Unabhängigkeit, noch dependence, als Abhängigkeit wären die beste Lösung für ein gutes Zusammensein. Aber die Interdependence, also das Verständnis, dass zwischen einem Paar, einer Gruppe und gesamtgesellschaftlich eine Zwischenabhängigkeit besteht, hilft langfristig die eigene Haltung zum Thema Unabhängigkeit zu hinterfragen.

Es ist doch schön, wenn wir alle am Wohl des Gegenübers interessiert sind.

23. Mai 2023

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