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Tu es la grande – du bist die Älteste

Kinder aus Familien mit Einwanderungsgeschichte verspüren oft mehr Druck. Immerzu gilt es sich zu beweisen – in der Schule, der Gesellschaft und häufig auch bei den Eltern. Über Generationen hinweg gab meine Familie die Verantwortung von einem erstgeborenen Kind zum nächsten weiter. Doch vor allem im Kontext der Migration geht diese Rolle mit Erwartungen einher, denen man kaum gerecht werden kann. Ein Blick auf intergenerationale Lasten, das (Post-)Migra-Dasein, und familiäre Verantwortung.

Von Gisèle Moro

Es ist Sonntagabend, der Tisch ist gedeckt – und zwar mit Verträgen, Rechnungen und Briefen, die sich auf den Restkrümeln des Abendessens stapeln. Bürokratisches Zeugs, Dokumente über Dokumente, von denen ich mit meinen sieben Jahren natürlich keine Ahnung habe. Den Tisch haben mittlerweile alle verlassen, ausser mein Vater, der von einem Dokument zum nächsten huscht. Und Jenny, meine grosse Schwester, damals Teenager. Abends war immer die Zeit, in der die Grossen am Werk waren. Die Zeit, in der die Erwachsenen ihr Erwachsenenzeugs tun. Heute, bald 20 Jahre später, ist mir klar: Jenny hatte keine Ahnung, was sie inmitten dieser Zettelwirtschaft tut. Aber als älteste von uns Geschwistern und als erstes Kind unserer Familie, das in Deutschland aufgewachsen ist, war sie für meine Eltern die beste Option. Sie hatte Verantwortungen, die uns Jüngeren erspart blieben. Denn für den in Briefen verwendeten Beamtensprech, reicht das Deutsch meiner Eltern, die aus dem Kongo in das frisch vereinte Deutschland einwanderten, nicht immer ganz aus. Jenny war zehn Jahre alt, als sie Papa das erste Mal zu einem Bürotermin begleitete.

Anwaltskanzlei, Finanzamt oder Bank: Meine Schwester regelte

Einen Satz hörte Jenny von meinen Eltern immer wieder: «Tu es la grande» – du bist die Älteste. Ein kurzer Satz, der’s in sich hat. Ein unmissverständlicher Befehl von oben, der bedeutet: Strammstehen und ausführen! Erfülle deine Verantwortung. Und Verantwortung wiegt nunmal schwerer auf Kinderschultern. Vor allem im Gespräch mit anderen BIPoC wird mir klar: Die beschriebenen Pflichten tauchen in vielen Familien mit Migrationsgeschichte auf. Früher dachte ich, es ginge allen Erstgeborenen so, wie Jenny. Sicherlich auch meinem deutsch-deutschen Mitschüler Nils, der ja auch das älteste Kind der Familie ist. Sicher hat auch er quasi zwei Jobs: Tagsüber Schüler, abends Sekretär. Unbezahlt, versteht sich, ist ja Familie. Okay, vielleicht ist das ein wenig übertrieben. Es ist nicht so, als hätten meine Eltern Jenny nach der Schule mit dem ersten Schritt durch die Haustür Anzug und Krawatte übergestreift. Aber der Punkt ist: Für die meisten (weiss-) deutschen Kinder ist es nicht gelernt, Briefe für die Eltern schreiben zu müssen oder bei Terminen mit dabei sein zu müssen.

Hello ethnicity data gap!

Gesamtgesellschaftlich findet dieses Thema kaum Beachtung, das zeigt auch der Mangel an Wissenschaft: Wenn es um Migrationsfamilien geht, dann werden vor allem die Bildungserfolge, viel öfter aber die Bildungsmisserfolge der Kinder thematisiert. Darüber, mit wie viel Verantwortung sich Migrakids im Haushalt konfrontiert sehen, und was für Auswirkungen das auf deren Werdegang hat, dazu finde ich keine wissenschaftlichen Quellen. Komisch, dass das niemand auffällig findet. Immerhin kommen 39 Prozent aller Kinder in Deutschland aus Familien mit Einwanderungsgeschichte, so das Bundesministerium für Familie, Senior:innen, Frauen und Jugend. Also begebe ich mich auf die Suche nach Psycholog:innen, Therapeut:innen, Life-Coaches – kurz: Expert:innen, die Jennys Erfahrung in dieser Gesellschaft teilen: Schwarz, Cis-Frau, Kind migrantischer Eltern, erstgeboren. Doch aus meinem anfänglichen Optimismus wird bald Verzweiflung. Von einem Pool aus in Deutschland unterrepräsentierter Menschen, auch nur eine Person zu finden, die genau auf diese Beschreibung passt und diese in ihre tägliche Arbeit einfliessen lässt, schien fast unmöglich. Ich werde schliesslich doch erfolgreich und lande bei Sho Tatai, einem Diversity Trainer und Life Coach aus München. Nicht nur durch seine Arbeit mit überwiegend PoC-Kund:innen, sondern auch durch seine eigene Biografie als Kind japanischer Einwander:innen hatte Sho mit diesem Thema früh Berührungspunkte. Jennys Rolle zuhause ist für Sho nicht überraschend. Laut ihm führe die grössere Verantwortung Erstgeborener, vor allem in Familien mit Migrationsbiografie dazu, dass Dynamiken in gewisser Weise umgekehrt werden. Die Kinder, vor allem die ältesten Kinder, müssen sich quasi um die Eltern kümmern. «Sie übernehmen in jungen Jahren eine Funktion, die sie eigentlich gar nicht übernehmen sollten – zwar die des Helfers oder der Helferin», sagt Sho.

Von Generation zu Generation

Ich kann und möchte meinen Eltern aber keinen Vorwurf machen: Mein Papa selbst gilt nach dem Tod seines grossen Bruders als Erstgeborener der Familie. Was für eine Last und Verantwortung das für ihn bedeutete, darüber sprechen seine gerunzelten Augenbrauen und die Stresslinien auf seiner Stirn Bände. Vor allem nach Telefonaten mit der Familie im Kongo machen sich diese bemerkbar. Sein Mund aber schweigt. Es liegt in seiner Verantwortung, sich um das Wohlergehen der gesamten Familie zu kümmern, die Dutzende Mitglieder umfasst. Die Verwandtschaft zentriert sich zwar im Kongo, ist aber über die ganze Welt verteilt. Familiärer Druck, den mein Papa verspürt und indirekt abgibt, und zwar an Jenny.

In einem wissenschaftlichen Text von Kathrin Böker und Janina Zölch zu Geschwisterkonstellationen im Kontext von Migration schreiben die Sozialforscherinnen: «[…] Die eigene Herkunft der Eltern, ihre ungelösten Konflikte und selbst erlebten Geschwisterkonstellationen entscheiden mit, an welches Kind welche individuellen Gefühle, Erwartungen und Aufträge gerichtet werden». Und das wiederum beeinflusse die Interaktion mit dem jeweiligen Kind massgeblich. Dieser eben genannte Druck ist motiviert von einem weiteren Gefühl, das Papa und Jenny, Sho und ich, und viele, viele weitere Migrakids teilen: Schuld. «Ihr konntet eure Träume nicht erfüllen, deshalb muss ich euch was zurückgeben», beschreibt mir Jenny ihre Schuldgefühle unseren Eltern gegenüber. Ihre Stimme zittert dabei. Was man laut Sho aber nicht vergessen darf ist, dass die Entscheidung zu migrieren nicht bei den Kindern, sondern bei den Eltern lag oder liegt. «Die Kinder übernehmen also eine Verantwortung, die eigentlich nichts mit ihnen zu tun hat. Schuldgefühle verspüren dann aber doch in erster Linie wir», so der Münchner Coach.

I feel you fellow Migrakid

Ich schulde euch was, deshalb muss ich gute Noten schreiben. Ich schulde euch was, deshalb muss ich so werden, wie ihr es wollt. Ich schulde euch was, weil ihr nicht das Leben führt, das ihr euch vorgestellt habt. Diese Gedanken kommen dir bekannt vor? Hallo, fellow Migrakid!

Apropos gute Noten: Berücksichtigt das Bildungssystem die Doppelbelastung von Kindern aus migrantischen Familien eigentlich? Das frage ich Vera Atwell de Nobrega, diskriminierungssensible Mindset-Coach, Empowerment-Trainerin, Bloggerin und Autorin. Vera ist sich sicher: Die Doppelbelastung wird in Schulen in keinster Weise berücksichtigt. Dafür mangele es an Bewusstsein für diese Thematik. «In dem Grossteil der Schulen, in die ich gehe, wird noch nicht einmal verstanden, dass Rassismus in Deutschland überhaupt ein Problem ist. Was migrantische Familien so Tag für Tag durchmachen und welchen Herausforderungen sie gegenüberstehen – dafür ist leider kein Verständnis da.» Dem kann sich Sho nur anschliessen.

Das beste Beispiel für das mangelnde Verständnis war die Pandemie. «Für viele Kinder in weissen Mittelschichtsfamilien ist Home Schooling vermutlich kein Problem – ausreichend grosse Wohnungen und eigene Zimmer sind die Regel und vielleicht ist sogar ein eigener Laptop vorhanden», meint Sho. Schaut man aber in migrantische Familien, sieht das oft anders aus. Wenige Quadratmeter mit durchschnittlich mehr Geschwistern. Das heisst, weniger Ruhe und Downtime, um sich fokussiert den Schulaufgaben widmen zu können. Natürlich ist es noch lange nicht in allen Familien mit Migrationsbiografie der Fall. Und natürlich gab es auch weiss-deutsche Familien, die es in dieser Hinsicht schwer hatten. Verhältnismässig trifft es migrantische Familien aber stärker.

Es sind also gesamtgesellschaftliche Strukturen, die es Familien mit Migrationsgeschichte schwerer machen. Eine Mischung aus Rassismus, Klassismus und Ignoranz haben diese Ergebnisse zur Folge. Um die Kinder und Jugendlichen aus diesen Familien zu unterstützen, müsste vor allem eines her: Geld. Das sollte man laut Sho an erster Stelle in eine Grundsensibilisierung der Lehrkräfte investieren. «Wo findet die strukturelle Diskriminierung statt? Wer hat welche Ressourcen, wer nicht?» Das sind, laut Sho, Dinge, die Lehrkräfte in ihren Klassen analysieren und verstehen müssen.

Für immer Pflichtgefühl?

Zurück zu meiner Schwester Jenny. Mittlerweile leben wir kongolesisch schwäbischen Schwestern in Deutschland verteilt. Berlin, Hessen und Jenny wieder in Stuttgart. 45 Minuten Autofahrt von meinen Eltern entfernt. Ob Jenny in Stuttgart lebt, um auf Abruf für meine Eltern da zu sein, das weiss ich nicht genau. Das weiss auch sie nicht so genau. Denn noch vor wenigen Jahren hat sie von einem Umzug in die Grossstadt geträumt. War es wirklich Pflichtgefühl oder einfach Angst, die sie von dem Umzug abgehalten hat?

Die ältere Schwester, die ich in Jenny hatte, hätte sie sich gerne für sich selbst gewünscht, vertraut Jenny mir in unserem über zwei stündigen Gespräch an. Jemanden, den sie mit Welpenaugen nach Hilfe fragen kann, wenn sie nicht checkt, was eine Auflassungsvormerkung ist. Aber austauschen konnte und wollte sich Jenny dazu früher mit niemandem. Aufgewachsen in einem weissen Happyland, wie Anti-Rassismus-Trainerin Tupoka Ogette sagen würde, in dem die Autos fett und die Ignoranz noch fetter ist, schien es, als ob niemand wirklich verstehen könnte, wie es Jenny geht.

Mit unserem Vater über ihren «Workload» und die Überforderung zu reden fällt ihr bis heute schwer: «Wenn Papa mir Nachrichten mit „To-Do’s“ schreibt, schreibe ich manchmal einfach nicht zurück, weil es mir zu viel wird. Ist zwar nicht die feine Art, aber ich weiss nicht, wie ich ihm erklären könnte, wie es mir damit geht.»

Danke, big Sis!

Heute sehe ich, was sie alles geleistet hat. Und auch Jenny sieht mittlerweile die Stärke, die sie damals zeigte und auch heute noch zeigt. «Ich habe in meinem Leben so oft Dinge gemacht, die wirklich nicht meines Alters entsprechend waren. Und ich habe es immer irgendwie gemeistert. Wenn eine Aufgabe anstand, egal wie kompliziert, dann hab ich sie einfach gemacht. Ich sollte echt mit einer breiten Brust durchs Leben gehen.»

Das kannst du allerdings, Jenny. Du und Papa und eigentlich alle Migrakids, die alles geben und halb so viel zurückbekommen.

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