Doch dann kam der Tag, an dem mich die fragenden Blicke meiner Verwandtschaft eines Besseren belehrten: Ich war in Köln, zu Besuch bei meiner Tante, meinem Onkel und meinen Cousins. An einem der Abende kamen wir auf Zahlenreihen zu sprechen – ich kann mich nicht erinnern, wir bei diesem ungewöhnlichen Gesprächsthema gelandet sind. Das schien mir jedoch die perfekte Gelegenheit zu sein, um mich mal mit den anderen über die bunten Gebilde auszutauschen. Wie das alles wohl bei ihnen aussah? Euphorisch begann ich meine innere Welt zu teilen. Ich erzählte, was Zahlen in meinem Kopf für eine Strecke formen, dass es bis zur 15 gerade nach oben geht, dann eine Linkskurve folgt, es bei 20 wieder nach oben geht und so weiter. Ab der 32 wird es dann ein wenig schräger, im wahrsten Sinne. Ich erzählte, dass die drei auf jeden Fall gelb ist, die fünf blau und die sieben grün. Alle schauten mich stirnrunzelnd an und ich dachte, ich war einfach nur nicht gut im Erklären. «Moment, ich mal es euch auf», sagte ich, schnappte mir einen Zettel und einen Stift und malte auf, wie ich mir schon seit ich denken kann die Zahlenreihe vorstellte. Und weil ich gerade im Flow war, machte ich direkt mit meinem Alphabet weiter, welches, anders als die Zahlen, von oben nach unten verlief. Es hatte viele Rechtskurven und viele Farben. Es war das erste Mal, dass ich all das zu Papier brachte, was ich schon seit Kindesalter vor meinem inneren Auge sah.
«Und schaut, die Monate sehen bei mir so aus: Der dunkelblaue Januar geht nach oben, der weisse Februar nach links, der orangefarbene März schräg hoch und der hellgrüne April knüpft daran an, und zwar waagerecht nach rechts und so weiter. So von oben sehe ich es, wenn ich rausgezoomt hab, wie jetzt. Aber eigentlich ist es dreidimensional und ich befinde mich mittendrin. Und innerhalb der Monate kommen dann wieder meine Zahlen ins Spiel, die passen sich an die jeweilige Monatsrichtung an. Und an Silvester bin ich quasi ganz oben im Jahr angelangt und falle dann runter zum neuen Januar. So fühlt es sich für mich an.»
Den Blicken nach zu urteilen, konnte mir keine:r folgen. «So stellst du dir das Jahr vor? Das ist ja mega kompliziert. Ich verstehe nur Bahnhof», sagte meine Tante. Für mich hingegen machte es total Sinn. Warum, keine Ahnung. Mein Hirn wird schon gewusst haben, was es da kreiert hat. Auch Jahre haben bei mir eine ganz bestimmte Anordnung und Gefühle haben eine Farbe. Auch die Gedichte, die ich schreibe, haben für mich eine oder mehrere Farben. All das ist seit jeher ein fester Bestandteil meiner Wahrnehmung und somit ein Teil von mir. Etwas, das mir hilft verschiedene Dinge einzuordnen und mich zu orientieren. Deshalb kam ich nie auf die Idee, das zu hinterfragen. Ich dachte ja sogar bis zu diesem Tag der fragenden Blicke, dass jeder Mensch solche aussergewöhnlichen, bunten Konstruktionen für all diese Dinge vor seinem inneren Auge sieht. Ich dachte, es sei normal, dass uns allen solche verborgenen, individuellen Welten innewohnen und dass es allen klar sei. So normal und offensichtlich, dass ich nie die Notwendigkeit sah, darüber zu sprechen und sich auch nie die Gelegenheit dazu ergab. Deshalb war ich auch so geschockt, als alle meinten, sie stellen sich all diese Dinge weder bildlich noch farbig noch sonst irgendwie vor. Das konnte ich wiederum absolut nicht nachvollziehen. Wie soll das gehen?
Um ehrlich zu sein, war ich damals ziemlich enttäuscht, als keine:r mir solche verrückten Gebilde präsentieren konnte. Und wahrscheinlich noch mehr, weil keine:r meine Wahrnehmung nachvollziehen konnte. Wenn es doch nicht so normal ist, wie ich immer schlussfolgerte, bin ich dann etwa auch nicht ganz normal? Was ist das also, was mein Hirn da kreiert? Zum Glück wusste wenigstens Google darauf eine passende Antwort. Der allwissenden Suchmaschine zufolge ist es eine sogenannte Synästhesie. Noch nie gehört. Klingt irgendwie kunstvoll. Es beschreibt die Verknüpfung mindestens zweier Sinneswahrnehmungen aufgrund eines Reizes. Diese auftretenden Synästhesien (z.B. farbige Buchstaben sehen, Geräusche schmecken etc.) passieren spontan, sind nicht unterdrückbar und in der Regel ein Leben lang gleichbleibend vorhanden. Ich las ausserdem, dass nur etwa vier Prozent aller Menschen mindestens eine der verschiedenen Synästhesie-Formen haben. Über die Prozentzahl sind sich Wissenschaftler:innen allerdings nicht ganz einig, da es viele Synästhetiker:innen gibt, die gar nicht wissen, dass sie welche sind. Von den verschiedenen Formen der Synästhesie gibt es jedenfalls viele, wie ich feststellte. Unter anderem die Graphem-Farb-Synästhesie, die Ticker-Tape-Synästhesie, die Sequenz-Raum-Synästhesie. Es eröffneten sich mir plötzlich doch ganz geheimnisvolle, neue Welten. Manche Synästhetiker:innen können sogar Farben hören, Töne schmecken oder Wörter riechen. Wahnsinn, was es für unterschiedliche Ausprägungen dieses neurologischen Phänomens gibt. Mein Interesse und meine Begeisterung wuchs. Die Enttäuschung schwand. Gut, dachte ich, wer will auch schon normal sein? Ich besitze scheinbar eine zusätzliche Begabung.
Merkmale von Synästhetiker:innen
Mittlerweile ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass das Gehirn von Synästhetiker:innen insgesamt komplexer verdrahtet ist und nicht nur bestimmte Gehirnareale stärker miteinander vernetzt sind. Interessant ist ausserdem, dass davon ausgegangen wird, dass beim Vorliegen einer Synästhesie auch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale auf die Person zutreffen. Solche Merkmale sind beispielsweise eine erhöhte Kreativität, eine bessere Vorstellungskraft und Merkfähigkeit, eine ausgeprägtere Sensibilität (Hochsensibilität) für Sinneswahrnehmungen und eine erhöhte emotionale Empathie. Alles Merkmale, mit denen ich mich sehr stark identifizieren kann. Dass diese erhöhte neuronale Tätigkeit jedoch nicht nur Vorteile mit sich bringt, weiss ich mittlerweile auch. Ich nehme viele Reize intensiver und auch ungefiltert wahr. Ausblenden? Fehlanzeige. Daher bin ich auch viel anfälliger für Reizüberflutungen. Doch seit ich all diesen Dingen einen Namen geben kann, fühle ich mich nicht nur verstanden, sondern verstehe mich selbst vor allem viel besser. Sicher ist da noch Luft nach oben bezüglich des Verstehens meines Wesens. Um die möglichen vorliegenden Synästhesie-Formen wissenschaftlich prüfen zu lassen, könnte ich mich modernen Bildgebungsverfahren, die mein Gehirn genauer analysieren, sowie psychologischen Tests unterziehen. Denn durch beide Tests ist eine Synästhesie eindeutig nachweisbar.
Meine Frage ist jetzt nur: Will ich mir das, was für mich schon seit jeher Sinn macht, wissenschaftlich erklären lassen? Jetzt, wo ich weiss, dass mir so eine geheimnisvolle, bunte, individuelle Welt innewohnt, will ich ihr die Magie nehmen?
14. Januar 2023