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Reiher nach Höngg tragen

Für helle Momente der Einsicht, des Verstehens, braucht es nicht immer grosse Geister wie Kafka oder Camus. Da reicht manchmal ein Spaziergang, ein Blick aufs Wasser, ein grauer Vogel auf der Jagd. «Everyone should be quiet near a little stream and listen.»

Von Lothar J. Lechner Bazzanella

Im klaren, aufgewühlten Wasser gleich hinter dem Höngger Kraftwerk fischt ein Reiher. Ich begegne ihm alle paar Tage, wenn ich meine Hündin zum Spazieren rausbringe. Ich beobachte ihn gerne. Ruhig und bei jedem Wetter hockt er an der Ufermauer oder im Moos und blickt ins Blaue. Vor ihm der Strom, der die Werdinsel umspült. Gischt, Nebel im Efeu. Nasse, morsche Baumstämme, ein geplatzter Luftballon hängt in einem der Haselnusssträucher, eine Krähe zerbricht in einem der Schrebergärten nebenan einen Kiefernzapfen. Ein Jogger spuckt auf den Boden, er hat keine Augen für den Reiher und letzterer nur Augen für das Wasser und die kleinen Fische, die sich dort tummeln. Ich weiss nicht, welche es sind. 

Doch der Reiher benimmt sich sonderbar. An manchen Tagen holt er einen Fisch nach dem anderen aus dem Kanal. Von weitem sehe ich, wie mehrere silberne Flecken vor ihm liegen. Noch ein letztes Zappeln, dann packt der spitze Schnabel sie und ein Leben endet. Von der «zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt» sprach einst Albert Camus. An anderen Tagen aber will kein Fang gelingen und die wenigen, kleinen Brocken, die der Reiher an Land holt, schaffen es mit einem kleinen, schnellen Sprung zurück ins Wasser und der zackig gefiederte Vogel schaut verdutzt und unbeholfen in die Flut. So geht das schon seit Wochen und Monaten und es scheint, als hätten selbst Reiher mal solche Tage und dann wieder ganz andere.

In Kafkas «Der Prozess» wird ein junger Mann ohne ersichtlichen Grund verhaftet. Jeder verzweifelte Versuch, Klarheit über seine Anklage zu bekommen, scheitert. Nichts macht Sinn, Hilflosigkeit, undurchsichtige Systeme, Fragen als Schicksal. Ein Schlüsselwerk der modernen Literatur und ein Paradebeispiel für Kafkas absurden Realismus. «Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.» 

Ich glaube, unser Leben besteht aus der steten Einsicht, wie wenig man doch weiss, wie viel im Verborgenen wirkt, wie falsch man lag. «Maybe that’s enlightenment enough: to know that there is no final resting place of the mind; no moment of smug clarity. Perhaps wisdom… is realizing how small I am, and unwise, and how far I have yet to go», schrieb einmal tröstend Anthony Bourdain.

Heute morgen ist kein Reiher zu sehen. Stattdessen sitzt ein älterer Herr an der mit Zement aufgeschütteten Ufermauer, zerknitterte, aufgerissen Fischerhosen. Ein blauer Campingstuhl, eine Angelschnur tanzt im Wasser, weisser Plastikeimer. Er grüsst, ich lächle. Ein Fisch beisst an, Ruck, Zappeln, Riss, Blutspritzer im Eimer. Er murmelt: «Ich bin nicht so begabt wie die Reiher hier. Es sind meistens zwei, einer etwas geschickter als der andere. Sie jagen fast nie zusammen.»

08. Januar 2024

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