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Soziales Experiment im Kreis 1: Ein Besuch an der Friedensgasse

Seit sechs Monaten ist die Friedensgasse 1 besetzt. Sie ist nicht nur ein einzigartiger Kunstspace, sondern in erster Linie ein offener Treffpunkt fürs Quartier. Und noch ein bisschen mehr.

Von Noemi Ehrat

Nur zehn Minuten vom Paradeplatz entfernt existiert seit rund sechs Monaten ein Ort, der Bibliothek, Kino und Ausstellungsraum in einem ist. Spaziert man zufällig daran vorbei, scheint sich der Raum unauffällig in die Nachbarschaft einzufügen: Grosse Schaufenster geben den Blick frei auf eine feingliedrige schwarze Wendeltreppe, die umgeben ist von einem Sammelsurium an grossen Bildbänden über Kunst, politischer Literatur, alten Platten und dem einen oder anderen Poster an der Wand. Was wie eine teure avantgardistische Kunstgalerie anmutet, ist aber tatsächlich ein Squat.

Tritt man durch die Tür der Friedensgasse 1, ist die Chance gross, Rafal zu begegnen, einem von dreien des Kernteams, die sich um den Ort kümmern. Sofas laden zum Verweilen ein, ebenso der von Rafal angebotene Kaffee und Tee. Er selbst nennt den Ort einen «multifunktionalen Kulturraum». Nebst den Büchern, die man ausleihen oder kaufen kann, werden von hier aus auch das Noise-Musiklabel «Czarnagora» sowie der «Filmclub Populaire» betrieben. Im oberen Stock befindet sich zudem eine grosszügige Ausstellungsfläche, wo im Wechsel verschiedenste Kunst zu sehen ist. Und die Friedensgasse soll auch Quartiercafé, Infoladen und Treffpunkt für externe Gruppen sein.

Das Buchangebot, das unter dem Namen «GoraGora» läuft, basiert auf Rafals eigener Sammlung an Literatur. «Ich lagerte die Bücher in einem Keller ein, wofür ich bezahlen musste», erzählt er. Also hätte er sich dazu entschieden, die Bücher hierherzubringen. Ein ähnliches Konzept hatte er davor in einer anderen Besetzung verfolgt, damals noch mit einem Fokus auf politischer Literatur. Unterdessen umfassen die Titel aber auch grosse und kleine Namen der hiesigen wie internationalen Kunstszene, von Pipilotti Rist bis Louise Bourgeois.

Doch wie kommt eine kleine Gruppe von Künstler:innen und Studierenden dazu, ausgerechnet in unmittelbarer Nähe von Zürichs Nobelmeile im Kreis 1 quasi vor aller Augen eine Besetzung zu starten? «Früher waren Künstler:innen mehr mit den Jugendbewegungen vernetzt und die Kunstblase war noch nicht so kommerziell wie heute», erzählt Rafal. Die Friedensgasse-Gruppe will dies durchbrechen und unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen wieder zusammenführen. «Es ist ein Experiment», so Rafal. Und die Präsentation der Kunstbücher ist auch Überlebensstrategie – niemand würde eine Besetzung vermuten und die Polizei einschalten.

Rafal zeigt auf zwei Plakate, die die Wand zieren: Es sind Fotos der Fotografin Gertrud Vogler, die einmal auf Tonnen trommelnde und Barrikaden errichtende Aktivist:innen zeigen, prominent das Banner, «700 Jahre nur verarscht», und einmal einen Demonstrationszug an der Bahnhofstrasse mit der Schrift, «Friedensgasse bleibt». Tatsächlich war die Friedensgasse schon einmal besetzt und 1991 von der Polizei geräumt worden. Eine Räumung ist eine Bedrohung, die auch die jetzige Friedensgasse-Gruppe im Hinterkopf hat. Doch bisher scheint die Strategie der zumindest äusserlichen Anpassung an das Quartier aufzugehen.

Bisher funktioniert auch das soziale Experiment der Friedensgasse, keine soziale Insel, sondern eine Gemeinschaft zu sein, ganz gut. Die Besucher:innen des Squats reichen von älteren Leuten aus einem in der Nähe stehenden Altersheim, die auf einen Kaffee vorbeikommen, über Studierende der Zürcher Hochschule der Künste und Leuten, die in den 80er-Jahren in der Besetzerszene aktiv waren, bis zu migrantischen Gruppierungen. Ein Kollektiv brasilianischer Frauen über 60 trifft sich beispielsweise regelmässig hier und hielt eben erst eine Weihnachtsfeier in den Räumlichkeiten der Friedensgasse ab. Dass verschiedene Gruppen den Ort selbstständig nutzen, ist ganz im Sinne seiner Betreuer:innen. «Wir wollen die Infrastruktur bereitstellen, damit andere Menschen sie benutzen können», erklärt Rafal.

So zeigt der Filmclub auch von Externen kuratierte Programme. Bei den ersten Vorführungen waren rund zehn Menschen dabei, inzwischen sind es über 40. Aus Kapazitätsgründen mussten die Screenings deswegen in die grössere Zentralwäscherei verlegt werden. In diesen ersten sechs Monaten haben an der Friedensgasse zudem bereits vier Filmzyklen, fünf Kunstausstellungen sowie weitere einzelne Veranstaltungen, Konzerte und Performances stattgefunden. Für Januar sind zwei Buchveröffentlichungen und eine Retrospektive des im vergangenen Jahr verstorbenen Grafikers und politischen Aktivisten Marc Rudin geplant.

Noch ist die Friedensgasse ein Geheimtipp, ihren verschiedenen Projekten folgt man am besten auf den jeweiligen Instagram-Accounts oder Telegramkanälen. Im Gespräch sagt Rafal kurz, er wolle als Schutz vor einer potenziellen Räumung nicht zu viel preisgeben. Sich verstecken ist aber eben auch nicht das Konzept der Friedensgasse – schliesslich lebt der Ort vom lebhaften Austausch aller, die hierherfinden.

07. Januar 2024

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