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Melancholie; im Herbst wenn…

…die Tage wieder kürzer werden. Eben gerade noch erklärte ich meinem schwäbischen Nachbarn mit triumphierender Stimme, dass man (er) nun ja wieder bis 22 Uhr bei oder mit Tageslicht saufen könne. Nun wohnt er nicht mehr hier und die Sonne verabschiedet sich bereits um acht.

Von Lino Kalt

Mein Sommer war perfekt. Die Nostalgie nach Neuem hat mich an wundersame Orte getrieben. Mit schönen Menschen und wohltuenden Erinnerungen. Schon wieder wechselt eine Jahreszeit. Schon wieder verspüre ich neue Gefühle. Die Kolumne geht weiter. 

Ich hasse Übergänge und Abschiede generell, doch der SSS (Short Sharp Shock) welcher in unserer Klimazone den Herbst einleitet, der macht mir besonders zu schaffen. Nicht nur mir: mein Mitbewohner versucht verzweifelt, die letzten Sommernächte sinnvoll zu nutzen und so schläft er vier Tage hintereinander nicht, forciert, aber geniesst den Exzess auf der Suche nach abschlussreifen Abenteuern. Wenn dabei Haushaltspflichten verletzt werden, habe ich doch irgendwie grosses Verständnis dafür. Herbst aus der Perspektive eines mitt-20er heisst; Wiedereingliederung; Rechnungen bezahlen, sparen, sich Gedanken über die Zukunft (zumindest der näheren) zu machen und etwaige Vorbereitungshandlungen bezüglich anstehender Festtage zu tätigen. Wenn ich im Oktober auch nur einen Schoggi-Samichlaus sehe, dann meldet sich der Choleriker in mir. Einige stellen sich auf ein neues Studium-Semester ein, andere auf lange Arbeitstage. Ich versuche beides. Betonung auf «versuche».

Gemüse und Früchte kommen von weiter weg als gestern und das einheimische Angebot beschränkt sich immer mehr auf Knollen und Sprossen. Die Rohkost verkriecht sich wieder im Boden. Oder so. Etwas Gutes am Herbst ist Thanksgiving, weil dieses Event dazu legitimiert, eine Unmenge an Truthähnen zu verspeisen. Nur leider nicht hier. In der Schweiz werden dir dafür auf der Strasse die handflächengrossen Spitzahornblätter um die Ohren geblasen. Die Vegetation im Ernahof färbt sich von Grün zu Gelb zu Rot. Und erinnert zwischenzeitlich an eine knallige Landesflagge. Die Feinstaubbelastung an der Hohlstrasse verändert sich kaum. Doch es beginnt zu regnen. Wenigstens ist die Luft und entsprechend auch der Asphalt noch einige Wochen warm, was den Geruch des Regens darin und darauf irgendwie romantisch anhaucht. 

Was solls. Machen kann ich eh nichts gegen die Laufbahngeschwindigkeit der Erde, also beobachte ich gelassen die dicken Tropfen, die sich am Küchenfenster entlang, langsam in Richtung Boden bewegen. Die Grossen gewinnen immer. Wie typisch.

Aus den Speakern brummt Currensy’s «Mallory Knox», verleiht der Szenerie eine gewisse Leichtigkeit. Ich erwäge etwas Neues zu tun und verzichte auf den morgendlichen Kaffee (der Tag wird nicht mehr besser) und probiere mich im Zubereiten eines «Sidecars». Er gelingt halbwegs, aber hat es in sich. Ich trauere noch einige Momente den befreienden Sprüngen in die Limmat und den Spätsommerferien in Marseille nach, raffe mich dann aber auf und beginne weiterzuleben. 

Im Herbst halt. Und danach im Winter. Und danach?

Zum Abschluss: Haiku

Auf blattlosem Ast
Sitzt allein eine Krähe;
Herbstlicher Abend. 

Bashô (1643 – 1694)

16. September 2023

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