Logo Akutmag
Icon Suche

Averna

Leider haben wir es nicht an den See geschafft. So, als Familie. Wenn sich meine Grosstante nicht mit ihrer Schwester zerstritten hätte, wäre alles anders gekommen, viel besser.

Von akutmag

Text von Nadina Dollie

Wenn sie sich nicht zerstritten hätten, dann wäre das Haus in Tiefenbrunnen auf unseren Namen überschrieben worden – das Haus, in dem mein Vater zwei seiner vorpubertären Sommer verbracht hatte. Das Haus mit Seeanschluss und historischer Steinterrasse. Das Haus mit unbeschwertem Sommerboot und mit Zedernholz getäfeltem Wohnzimmer und Blick nach Wollishofen.

Jetzt sitzen wir da und starren auf den Fluss und auf Vaters Verbitterung.
Der Letten füllte sich mit quengelnden Badegästen, und ich sass da mit Averna im
Glas und dachte daran, dass vor einigen Tagen an der Hardbrücke ein kleiner Junge
umgekommen ist. Von einem Schwertransporter überrollt, keine zehn Jahre alt.
Ich dachte an den traumatisierten Lenker und die Eltern dieses kleinen Jungen.
Unser Haus hatte eine durchgehende Glasfront und eine Dachterrasse.
Aber wir sassen auf dem Balkon, weil Vater das so wollte.

Der Geschäftspartner sagte etwas und lachte prüfend in meine Richtung.
Ich dachte an meine Therapeutin, die ich seit einiger Zeit heimlich treffe.
Sie hat von verschiedenen Persönlichkeitsanteilen gesprochen und davon, dass bei
mir der Beobachter die dominierende Prägung sei. Danach habe ich diesen
Beobachter beschreiben müssen, und ich sagte ihr, dass ich eine steinerne Eule sehe,
die nicht spricht und nur die Augen bewegt. Meine neugierigen Anteile habe ich als
schlafenden Falter unter dem Tisch beschrieben. Ein Falter, der im Wachzustand
einfach das Licht sucht und da endet, wo alle enden; in Gesellschaft gut beleuchtet.

Mein Vater hat volles Haar wie ein Zwanzigjähriger und sieht deshalb sehr gut aus.
Ich beobachtete ihn und dachte daran, wie enttäuscht er von mir sein würde, dass
meine dominanten Anteile eine versteinerte Eule sind und ich darüber mit einer
heimlichen Therapeutin spreche.

Das Haus an der Limmat hatte etwas Bodenständiges, irgendwie Unterwürfiges.
Meine Mutter blieb immer in München, wenn wir ins Haus an der Limmat gingen.
Sie setzte erst wieder ein, wenn wir dann in Palermo am Flughafen waren und zum
Sommerhaus nach Syrakus fuhren. Auch, um Vater nochmals auf sein Versagen
hinzuweisen, dass wegen seines Familienstreits ein ganzes Seehaus im Fremdbesitz
verendete. Zürich hatte eine komische Wirkung auf mich, immer wieder aufs Neue.

20. September 2023

Weitere Artikel

Back:

Next:

Support us!

Damit wir noch besser werden