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Glückwunsch – du hast Daddy issues! 

Daddy issues sind ebenso Kultur- wie Alltagsphänomen: Wir begegnen ihm und sprechen darüber – allerdings meist oberflächlich. Doch was steckt wirklich dahinter?

Von Gisèle Moro

«Ich hab‘ Daddy issues.» So eröffnete mein Mitbewohner neulich ein Gespräch in der Küche. Er sei gerade bei seiner Therapeutin gewesen, die meinte, sie sollten sich mal genauer über seinen Bindungsstil und seine vergangenen Beziehungen unterhalten. «Ich erwähnte, dass ich mich schon immer zu älteren Männern, meistens in ihren 30ern und 40ern, hingezogen fühle. Das liegt, glaube ich, vor allem an meinem Verlangen nach Stabilität und Sicherheit. Wie aus dem Nichts hat meine Therapeutin gefragt, wie die Beziehung zwischen mir und meinem Vater so ist. Und ich war erst so hä, was hat mein Vater jetzt damit zu tun? Und dann hat es Klick gemacht: Daddy issues? Ich?»

Mir ist dieser Begriff vor allem aus Film und Fernsehen bekannt. Meistens in Verbindung mit einer naiven, attraktiven jungen Frau, Studentin im College, die sich in ihren Lehrer, Professor oder in einen anderen Vorgesetzten verknallt. Schön heteronormativ und cringe – eben à la Hollywood. Daddy issues sind ein beliebtes Motiv. Sie begegnen uns in verschiedenen Film- und Seriengenres, in Songtexten, Büchern – überall. Grund also, genauer hinzuschauen.

Daddy issues? Eine Begriffsdefinition

Die meisten von uns haben wohl eine grobe Vorstellung davon, was Daddy issues sein könnten und wie sie sich bemerkbar machen. Es ist eines dieser «Kulturphänomene», die einem immer wieder begegnen, man aber doch nicht so genau weiss, woher sie eigentlich kommen. Deshalb habe ich eine Definition recherchiert und dabei folgende gefunden: Im Wesentlichen handelt es sich um einen Begriff, der die Bindungsmuster von Menschen – meist Frauen – beschreibt, die eine negativ geprägte Beziehung zu ihrem Vater haben, die sich in ebenso komplexen und ungesunden Beziehungen zu anderen Männern in ihrem Leben manifestiert. Diese äussern sich über Bindungsängste, Unsicherheit, Anhänglichkeit, Unterwürfigkeit und Promiskuität.

Psychologin Amy Rollo lehnt den Begriff aber ab. Ihrer Ansicht nach, relativiert der Gebrauch dieses Begriffs die Bedürfnisse von Frauen und Femmes. Es handle sich bei Daddy issues um Bindungsmuster, die massgeblich von Erfahrungen in der Kindheit geprägt und mit in das Erwachsenenalter getragen werden. Mit dem Label Daddy issues werden die Dimensionen dieser verinnerlichten Verhaltensweisen zu einem leicht verdaulichen, patriarchal etablierten Häppchen abgeflacht. Und eindimensional schmecken Frauen dieser Gesellschaft ja am besten. 

Die Hintergründe von Daddy issues

Die väterliche Figur hat die (Populär-)Kultur nicht erst heute, sondern schon seit vielen Jahren fest im Griff. C.G. Jungs beschrieb mit dem «Elektra-Komplex» die unbewusste romantische Anziehung einer Tochter zu ihrem Vater. Das Konzept durchlief seither einen Wandel hin zu den uns jetzt bekannten Daddy issues. Heute zeichnet dieser Begriff das Bild einer Tochter, die verzweifelt nach männlicher Anerkennung in Form einer Vaterfigur sucht.

Daddy issues beginnen mit der gesellschaftlichen Sehnsucht nach Vätern – und dem, was sie repräsentieren: Väter als Schöpfer, Beschützer, Retter. Die, die uns leiten und immer wissen, wo es lang geht. In der Theorie zumindest. Im antiken Griechenland beschrieb man Zeus als Vater aller Menschen und Gottheiten, und auch im Christentum spiegelt sich dieses Narrativ wider: Gott, der allwissende, allmächtige Vater, der sich in seinem gemütlichen Himmelbett den Bart kämmt und uns von oben den Weg weist. 

Gesellschaftlich sind wir mindestens genauso besessen von Vaterfiguren wie davon, Frauen und Femmes zu stereotypisieren und zu labeln. Aus wahren Lebensrealitäten und Traumata haben Film und Fernsehen und die patriarchale Gesellschaft eine eindimensionale Karikatur gemacht. Eine Art Witzfigur, die als anhänglich, bedürftig, unterwürfig und unsicher dargestellt werden kann, zum Wohlwollen der Zuschauer:innenschaft. 

Daddy issues sind allgegenwärtig: Von der Kunst, die wir konsumieren, bis zum Gebrauch des Begriffs in unserer Alltagssprache. Wenn wir von Daddy issues sprechen, ist das in der Regel ein Mittel, die Bedürfnisse oder Wünsche einer Femme oder Frau zu entmenschlichen oder gar zu beschämen. Daraus spricht ein gesellschaftliches Bedürfnis, Frauen und Femmes zu untergraben, die irgendeine Art von Verlangen äussern: sei es sexuell, emotional oder körperlich.

Wer hat Daddy issues? 

Es ist wichtig, unter die Oberfläche zu schauen und zu versuchen, sich vom Stigma zu lösen; zu dekonstruieren, was die Art und Weise, in der wir uns an Menschen binden, über uns und unsere Bedürfnisse aussagt. Also habe ich Daddy issues oder nicht? Die Autorin Adrienne Santos-Longhurst, die sich in ihrer Arbeit vor allem mit mentaler Gesundheit befasst, hat auf die Frage eine ganz einfache Antwort: Wir haben alle Daddy issues. Glückwunsch!

In Santos-Longhursts Text, in dem sie sich mit dem Phänomen beschäftigt, heisst es weiter: «Es spielt keine Rolle, welches Geschlecht bei der Geburt zugewiesen wurde oder wie man sich identifiziert; die Beziehung zu den Bezugspersonen wird immer einen gewissen Einfluss darauf haben, wie Beziehungen als erwachsene Person angegangen werden.» Wichtig hierbei ist also, dass es kein Schema F gibt, nach welchem sich alle Menschen mit Daddy issues verhalten. Und was als Daddy issues gelesen werden, könnten genauso gut Mommy issues, Grandpa issues, Grandma issuesoder etwas komplett anderes sein.

Daddy hat issues 

Lasst uns den Spiess einmal umdrehen. Anstatt weiblich gelesene Personen zu beschämen, sollte lieber ein Augenmerk auf die Männer in diesen Dynamiken gelegt werden. Wir sollten einen Blick auf das Vaterkonstrukt als Gesamtes und seine Dominanz in unserer Gesellschaft werfen. Wir sollten jene Männer, die ihre Rolle als Vater nicht ausreichend oder gar nicht erfüllen, willentlich oder unwillentlich, fragen, wie verstehen sie die Rolle des Vaters? Inwiefern hängt dieses Verständnis mit patriarchalen und heteronormativen Strukturen zusammen? Welche Traumata tragen sie mit sich? Wie beeinflussen diese ihre Beziehungen?

Aber noch wichtiger: Es muss allen Menschen und vor allem Frauen und Femmes gestattet sein, ihre Bedürfnisse offen zu äussern, ohne dabei sexualisiert, objektiviert oder verspottet zu werden.

13. Februar 2024

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