Ich steige auf den Badewannenrand meiner kleinen Pariser Wohnung, in der ich zusammen mit meiner Kommilitonin und Freundin zwei Auslandssemester lang zusammenlebe. In unserem Badezimmer befindet sich ein Fenster, das etwas zu gross für seinen Rahmen zu sein scheint und klemmt. Während es den Spätsommer über eher unbeachtet einen Spalt breit offenstand, wird es mit Einbruch der grauen Tage immer unangenehmer, sich morgens im eiskalten Bad auszuziehen. Also versuche ich, es zu seinem Glück zu zwingen und stemme mich kraftvoll dagegen. Das Fenster rastet so abrupt in den Rahmen, dass ich mich nicht mehr rechtzeitig abfangen kann und mit voller Wucht mit dem Ellenbogen durch die Scheibe krache. Mir tut nichts weh, aber der frische Wind pfeift uns so nur noch mehr um die Ohren. Ich klebe eine Plastiktüte und etwas Pappe vor das Loch, um es notdürftig zu isolieren. Eine Langzeitlösung ist das jedoch nicht. Also tue ich das, was vermutlich viele Frauen Mitte zwanzig tun würden: Papa anrufen.
Meine Stimme hört sich so hilflos an, als wäre ich wieder drei und von der Schaukel gefallen, nur leider ist mein Vater 800 Kilometer entfernt und kann das nicht «mal eben reparieren». Ein weiteres Problem: In Paris eine:n Handwerker:in zu bestellen, ist ungefähr so, wie ich mir eine Safari vorstelle: viel Geld bezahlen, ohne vorher zu wissen, wann und ob das Objekt der Begierde vorbeikommen wird. Also muss ich mir (nach telefonischer Anleitung meines Vaters) wohl oder übel selbst helfen. Beim Glaser lasse ich mir ein Stück Scheibe zurechtschneiden, bekomme einen Klumpen Kit (diese knetartige Masse, mit der das Glas im Rahmen befestigt wird) dazu und gehe voller Tatendrang zurück nach Hause. Mahmut, der Concierge, der mir regelmässig Komplimente für meine «kräftigen Beine» (Danke, I guess?) macht, schaut mehr als verwundert drein und nachdem ich mein Vorhaben erklärt habe, besteht er darauf, zu helfen. Gemeinsam ersetzen wir die kaputte Scheibe, et voilà – beinahe hätte ich ohne die Hilfe eines Mannes etwas repariert. Trotzdem bin ich stolz auf mich, es ist ein neues Gefühl. Ich bin das nicht gewohnt.
Als Kind war ich tollpatschig. Ständig fielen mir Dinge herunter, der Ball ging daneben oder ich geriet in die Speichen des Fahrrads vor mir, weil ich den Blick verträumt durch die Gegend schweifen liess. Während Mama Pflaster auf Schürfwunden klebte und Tränen trocknete, verschwand Papa «mal kurz» unten in der Werkstatt, klebte Scherben wieder zusammen oder flickte den Reifen am Wegesrand. Je älter ich wurde, desto seltener passierten auch diese kleinen Unglücke, und trotzdem: kaputte Glühbirne, verstopfter Abfluss, da piepst was an der Waschmaschine – ein Fall für Papa. Ich möchte ein selbstständiges Leben führen und dazu gehört für mich, in möglichst wenigen Situationen von Männern abhängig zu sein. Papa fragen ist Grenzbereich, denn: Ich habe nicht das Gefühl, ihm nachher etwas zu schulden, es gibt kein Machtverhältnis und ein sexuelles sowieso nicht. Ich will als tägliche Fahrradfahrerin endlich wissen, wie man einen Reifen flickt. Nicht mehr auf die wortkargen Flanellhemd-Jungs aus der Fahrradwerkstatt der Uni angewiesen sein, die mich schief angucken, wenn ich genau an dem Tag, an dem ich meine goldene Glitzerstrumpfhose angezogen habe, mit einem platten Rad ankomme. Eigentlich sei das ja eine Hilfe-zur-Selbsthilfe-Werkstatt, aber am Ende machen sie alles selbst; ich füttere grosszügig die Kaffeekasse und hab dann doch wieder nichts gelernt.
Dabei bin ich am meisten von mir selbst enttäuscht. Mein älterer Bruder konnte das alles irgendwie schon immer. Wo ich war, als es ihm beigebracht wurde, kann ich nicht sagen. Ich erzähle meinem Vater von meinem Entschluss. Er ist misstrauisch überrascht und fühlt sich auch ein klein wenig angegriffen. «Wie, aber das ist doch jetzt nicht meine Schuld!» Irgendwie schon. Zwei Eigenschaften, die ich ganz klar von väterlicher Seite geerbt habe, sind Sturheit und Ungeduld. Daher kann ich gut verstehen, dass er die Dinge lieber schnell selbst erledigt. Besonders pädagogisch ist das aber nicht.
Mein Vater gibt ein bisschen nach. An Weihnachten steht ein Werkzeugkasten unterm Baum und er hat es in sich: elegante Schraubenschlüssel in Metallic-Optik, Regenbogenfarbene Inbus-Schlüssel und von aussen sieht der Kasten aus wie ein Pokerkoffer. Hot Shit. Ich ziehe mir die Schutzhandschuhe an und fühle mich irgendwie sexy. Der nächste Einsatz kann kommen.
Und der erste Triumph kommt tatsächlich. Ich mache ein Praktikum im Konsulat in Lyon und wohne währenddessen in der Wohnung der verstorbenen Mutter des Hausmeisters. Eine gruselige und zugige Wohnung, die nach Oma riecht und voller Katzenhaare ist. Für die kurze Zeit kein Problem, aber im Schlafzimmer erlebe ich ein Déjà-vu der unangenehmen Art: Pappe und Plastikfolie vor einem scheibenlosen Fenster bei einem Grad nächtlicher Aussentemperatur. Ich habe keinen Mietvertrag und schlafe zunächst mit schlechtem Gewissen und eingeschalteter Heizung. Nachdem mir alle Schleimhäute eingetrocknet sind, ziehe ich aufs Sofa ins Wohnzimmer. Wenn mein «Vermieter» unangekündigt vorbeischaut, weise ich ihn mehrfach auf das Fenster hin. Er weicht aus. Ich lasse nicht locker. Er sagt: «Ach, wissen Sie, das ist so ein altes Fenster und so klein noch dazu. Ich habe es wirklich versucht, aber keine Firma will das machen, verstehen Sie?» Er wiegt sich in Sicherheit. Ich hole tief Luft und sage: «Sie sind doch von Beruf Hausmeister. Also ich habe in meiner letzten Wohnung das kaputte Fenster einfach selbst repariert. Tut seinen Zweck und kostet nur 40 Euro. Vor allem bei einem einfach verglasten Fenster ist das doch ein Kinderspiel.» Er starrt mich mit offenem Mund an. Sogar während ich diesen Satz schreibe, allein in meinem Zimmer und weit weg von seinem Geruch nach saurem Magen, kribbelt es unangenehm in meiner Brust. Junge Frauen widersprechen Männern nicht in Reparaturfragen. Falsch! Meine Heizkosten betrugen am Ende fast die Hälfte der Miete. Ich habe mich geweigert und nur einen Anteil überwiesen. Wäre die Pariser Fenstersache nicht passiert, hätte ich ihm nicht widersprechen können, was nicht nur weniger triumphal, sondern auch sehr teuer gewesen wäre. Ich habe keine Lust mehr, für ahnungslos verkauft zu werden, weil ich jung und weiblich bin.
Die Fenstergeschichte verfolgt mich weiter. Meine neue WG ist hübsch und gemütlich, aber im Herbst zieht es derart durch die Fenster, dass einem die Haare wehen, als wäre man Beyoncé beim Cover-Shooting. Nach mehrfachen Anrufen kommt der Verantwortliche der Hausverwaltung vorbei – ein klassischer Immobilienmensch mit schlechtem Haarschnitt, der seinen Frust darüber, das Haus nicht selbst zu besitzen an seinen Mieter:innen auslässt. Nachdem er seine Quadriga an rheinländischen Hausmeistern vorgeschickt hat, um auszumessen und uns von den Kochkünsten ihrer philippinischen Ehefrauen (aha) zu erzählen, hievt er sich selbst zur Begutachtung in den vierten Stock. Nach einer kurzen Betrachtung der Fenster, während der er uns keines Blickes würdigt, wendet er sich an die vier Hausmeister: «Können wir da nicht einfach nochmal drüberstreichen?» Über die isolierende Wirkung einer zusätzlichen Farbschicht am Fensterrahmen war mir bisher nichts bekannt. Ich schaue fassungslos zu meiner Mitbewohnerin, mache den Mund auf und wieder zu. Weiss ein Mann nicht, was zu tun ist, wird er allenfalls belächelt. Aber Frauen fragt man oft gar nicht und redet über sie hinweg. Man hält sie von vornherein für unwissend – und behält damit leider meistens recht. Ein bisschen Basis-Know-How würde nicht nur unserem Portemonnaie, sondern auch unserer Unabhängigkeit guttun.
Für mich ist das Reparieren Neuland ausserhalb meiner Comfort-Zone, aber auch feministische Praxis. Ich möchte, dass Schluss ist mit diesem Gefühl der Ohnmacht. Ich möchte nicht mehr meinen Nachbarn, der mir nur mit einem Handtuch um die Hüften die Tür öffnet, um eine Rohrzange bitten, ein Augenzwinkern ernten und ihm zu ewiger Freundlichkeit verpflichtet sein. Ich möchte nicht mehr über die Witze von Natureboys lachen, damit sie mir beim Reifen-Flicken helfen. Männer bei Reparaturfragen um Hilfe zu bitten, fühlt sich für mich nach der Art Rollenbild an, die ich abschaffen möchte.
Inzwischen habe ich mehrere Siphons abgeschraubt, Lampen angebracht (mangels Stirnlampe musste ich mir mein Handy mithilfe eines Haarbands um den Kopf binden; das Headset in den Ohren, damit ich gleichzeitig mit meiner besten Freundin gossipen konnte), zahlreiche Löcher in Wände gebohrt, und platte Reifen geflickt. Die Resultate sind meist eher im Spektrum des Semi-Professionellen anzuordnen, aber trotzdem: Ich habe sie allein bewerkstelligt. All diese Kleinreparaturen, für die man keinen Handwerker rufen, aber eben auch nicht um eine gefällige männliche Hand bitten möchte.
10. Februar 2024