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«Der Film soll die Welt daran erinnern, dass in Syrien seit über zehn Jahren ein Krieg herrscht» – Alisar Hasan und Alaa Amer im Interview

Der Dokumentarfilm «Behind the Lines» erzählt den politischen Kampf der syrischen Künstlerin und Aktivistin Amany Al-Ali. Die 37-Jährige skizziert Comics und Karikaturen gegen die islamistische Herrschaft und das patriarchale Assad-Regime.⁠ Ein Interview mit den beiden Macherinnen des Films, Alisar Hasan und Alaa Amer über das Cartoon-Zeichnen als besondere Protestform und Mittel des feministischen Empowerments.

Von akutmag

Text von den Gastautorinnen Susanna Bosch und Anja Jeitner.

Der Dokumentarfilm «Behind the Lines» erzählt den politischen Kampf der syrischen Künstlerin und Aktivistin Amany Al-Ali. Sie lebt in Idlib, der einzigen Stadt in Syrien, die nach über zehn Jahren Krieg noch immer von Dschihadistischen Gruppen kontrolliert wird. Zwischen Luftangriffen und Gewaltausschreitungen auf der Strasse sitzt Amany eigentlich pausenlos in ihrem Atelier, das sich im Haus ihrer Familie befindet.

Mit Stift und Papier skizziert die 37-Jährige Comics und Karikaturen gegen die islamistische Herrschaft und richtet sich furchtlos gegen das patriarchale Assad-Regime. Als eine der wenigen weiblichen Comic-Zeichner:innen Syriens publiziert sie ihre Zeichnungen über Social Media und in diversen Zeitungen. Ihre Kunst erregt weltweit Aufmerksamkeit und wird an verschiedenen internationalen Ausstellungen gezeigt. Gleichzeitig wird Amany für ihre kritische Haltung bedroht, diffamiert und degradiert – immer wieder stellt sich die Frage, ob sie in Syrien bleiben kann. 

Mit einer Mischung aus dokumentarischen Aufnahmen und animierten Sequenzen wird in «Behind the Lines» eine Protagonistin portraitiert, die den Stift nie aus der Hand legt. Ihr Alltag ist geprägt von Rebellion und dem beständigen Wunsch, die Gesellschaft zu verändern. 

Im Interview sprechen die beiden Macherinnen des Films, Alisar Hasan und Alaa Amer über das Cartoon-Zeichnen als besondere Protestform und Mittel des feministischen Empowerments.

Der Film ist Teil der sechsteiligen Dokumentarserie «Draw for Change!», die sich dem feministischen Widerstand verschiedener Cartoonistinnen aus Mexiko, den USA, Russland, Indien, Syrien und Ägypten widmet.

«Amany, Behind the Lines» AR 2023 (Regie: Alaa Amer und Alisar Hasan. Mit: Amany Al-Ali u.a., 70 Min.)

Amany Al-Ali ist die einzige Karikaturistin Syriens, die ihre Kunst als Mittel für sozialen und politischen Wandel einsetzt. Was macht Amany als Protagonistin für euren Film besonders und wie seid ihr auf sie gestossen?

Alisar Hasan:Ihr Zeichnungen behandeln verschiedene soziale, genderspezifische, politische und religiöse Themen. Sie adressiert die Assad-Diktatur direkt und prangert Kriegsverbrechen, die herrschende Korruption, die religiöse Kontrolle oder die Beschneidung der Rechte von Frauen und Geflüchteten an. Wir waren auf der Suche nach einer persönlichen Geschichte, in der sich gewissermassen die Kriegserfahrungen vieler Frauen widerspiegelt.

In Amanys Zeichnungen fanden wir eine kraftvolle Reflexion dieser Erlebnisse. Durch ihre Zeichnungen bekommen wir Einblicke in die Realität des Krieges und die damit einhergehenden sozialen und politischen Bedingungen, die sich unverhältnismässig stark auf Frauen und gefährdete Gesellschaftsgruppen auswirken.

Jede Zeichnung dokumentiert eine bestimmte Phase des Konflikts und wird so zum Zeugnis eines Stücks Realität. Durch die Wiedergabe Amanys individueller Geschichte fanden wir eine Möglichkeit, eine Vielzahl an Geschehnissen auszudrücken.

Was war eure Hauptmotivation, diesen Film zu machen? 

Alisar Hasan: Wir wollten mit diesem Film konventionelle Gendernormen und -erwartungen in unserer Gesellschaft in Frage stellen. Den Stimmen der syrischen Frauen Gehör verschaffen und ihre wichtigen Rollen als Aktivist:innen und Künstler:innen in der Gesellschaft beleuchten. Der Film soll zeigen, dass auch Frauen als starke Karikaturist:innen, Geschichtenerzähler:innen und Anwält:innen soziale und politische Veränderungen vorantreiben können. 

Alaa Amer: Ziel war es ausserdem, die verschiedenen Phasen des Syrienkonflikts zu dokumentieren und festzuhalten. Der Film soll die Welt daran erinnern, dass in Syrien seit über zehn Jahren ein Krieg herrscht, der beendet werden muss. 

Ihr seid beide selbst in Syrien aufgewachsen. Heute lebt ihr in Istanbul und Berlin. Mit diesem Film erzählt ihr einen Teil der Geschichte eures Heimatlandes, betreibt selbst also eine Form des Aktivismus.

Alisar Hasan: Als syrische Frauen und Dokumentarfilmerinnen sind uns die Herausforderungen, die unsere Gesellschaft den Frauen auferlegt, bestens vertraut. Ich bin in Syrien aufgewachsen und habe die Auswirkungen der patriarchalischen Strukturen und der Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit durch das Regime von Bashar al-Assad miterlebt. Der Journalismus und das Filmemachen sind für mich wichtige Ausdrucksformen, mit denen ich die Grenzen des Sagbaren zu verschieben versuche. Hinter den künstlerischen und narrativen Entscheidungen, die ich treffe, stehen stets aktivistische Überlegungen. 

Der Dokumentarfilm wird durch verschiedene animierte Sequenzen ergänzt. Als Comicfigur findet sich Amany zum Beispiel in einem Albtraum wieder, in dem sie verfolgt wird. Worin besteht das Potenzial in diesem spezifischen Verfahren des Filmemachens?

Alaa Amer: Die Animationen gaben uns die Freiheit, Dinge zu erzählen, die wir mit der Kamera nicht direkt einfangen konnten. Plötzlich war es zum Beispiel möglich, abstrakte Gefühle figurativ ausdrücken. Wir konnten Bilder aus Träumen in unsere Erzählung mit einfliessen lassen, oder auch auf Vorahnungen und die Vergangenheit Bezug nehmen.

Alisar Hasan: Die Cartoons waren auch ein Hilfsmittel, um Amanys Hintergrundgeschichte zu illustrieren. Sie ermöglichten es, den tiefgreifenden Einfluss des Krieges auf ihren Alltag, ihren mentalen Zustand und ihr Trauma verständlicher zu machen. 

Alaa Amer: Amanys Zeichnungen, die sonst nur still für sich sprechen, sind nun lebendig: Sie bewegen sich, vollziehen Handlungen. Und können ihr Gegenüber tief berühren. Über diese neue Entfaltung ihrer Arbeit ist Amany sehr glücklich.

In allen Folgen der sechsteiligen Dokumentarserie «Draw for Change!» geht es um zeichnende Aktivist:innen. Worin besteht die Kraft der Zeichnung als Mittel des Widerstands?

Alaa Amer: In Karikaturen oder Comics werden kurze, starke Botschaften vermittelt, die jede:r unmittelbar verstehen kann. Ich denke, dass es eine besonders fruchtbare Form ist, um die aktuelle revolutionäre Bewegung in Syrien auf eine unkomplizierte Weise an ein europäisches Publikum heranzutragen.

Alisar Hasan: Jede von Amanys Zeichnungen bietet eine kritische visuelle Interpretation der Realität. Der karikative Charakter der Zeichnungen spielt dabei eine wichtige Rolle: Die Übertreibungen und Verzerrungen machen das Dargestellte lächerlich und entziehen ihm seine Aura von Macht, Prestige und Unantastbarkeit. Autoritäten werden entmystifiziert. Die Betrachtenden hingegen werden dazu ermächtigt, das Dargestellte zu verspotten, zu verhöhnen oder gar zu persiflieren. Karikaturen werden so zu einem wirksamen Instrument der Veränderung, um Machstrukturen zu konfrontieren und kritisieren. 

Amanys Kunst trägt nicht zuletzt zur Dokumentation der gegenwärtigen Ereignisse in Syrien bei: Als historische Referenzen können ihre Zeichnungen in Zukunft dabei helfen, die aktuelle Geschichte differenziert zu lesen.

Neben ihren eigenen Projekten gibt Amany auch anderen Frauen und Mädchen Zeichenunterricht. Welche Rolle spielt das gemeinsame Zeichnen für die Organisation von weiblichen Gemeinschaften und die Stärkung von Frauen? 

Alisar Hasan: Einige Frauen verschreiben der Kunst ihr Leben, für andere hat sie mehr eine therapeutische Funktion zur Heilung und Erholung von Traumata. Für viele dient sie als persönliches Werkzeug, um Machtstrukturen in Frage zu stellen. Letztlich hat die Kunst das Potenzial, jeder Frau – unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Position – eine Stimme zu verleihen. Diese Stimme kann von keiner Machtstruktur zum Schweigen gebracht oder ausgelöscht werden.

Alaa Amer: Wir sind überzeugt, dass die politische Veränderung in Syrien von Frauen ausgehen wird. Amany ist das perfekte Beispiel, warum. Sie ist unglaublich mutig und hat die Kraft, ihr Umfeld mit diesem Mut anzustecken: ihre Familie, Freund:innen, aber auch die gesamte Gesellschaft. Mit ihrer Fähigkeit, aus einer Krise Kunst zu machen, ist sie Vorbild für die Frauen in ihrer direkten und indirekten Umgebung. Um diese Frauen ihrer selbst zu ermächtigen und sie so dazu ermutigen, eine friedliche Zukunft für Syrien zu schaffen.

30. Mai 2023

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