Gegen Jahresende erreicht der Trubel, das menschliche Wirrwarr, Wettsaufen, Verrücktshoppen und Dauergefresse seinen Höhepunkt. Ohne Appetit, dafür mit Augenringen und leichter Fahne, torkele ich von einer Party zur nächsten, umarme, scherze – «Hey, lang nicht mehr gesehen. Frohes Neues dir auch» – und schlittere noch unbewusster, noch apathischer als sonst ins nächste Jahr, während es am Himmel über mir nur so donnert, eine Rakete nach der anderen hochgeht und der Geruch von beissendem Rauch und kaltem Bier die Luft erfüllt.
Klar, wieder einmal Zeit mit der Familie – selbst mit dem leicht rassistischen, immer griesgrämigen Onkel, mit den immer gleichen Gesprächen, mit dem eingespielten Weihnachtsspektakel – tut mal wieder gut und ich will hier nicht den Grinch spielen. Gleichzeitig hat diese Zeit den Begriff Besinnlichkeit nicht mehr verdient, finde ich.
Enorm mein Bedürfnis, in diesen Tagen allein zu sein. Abzuschalten. Bukowski – griesgrämiger König der Einsamkeit – und einige seiner Zitate über das Alleinsein, über die Menschenmengen fallen mir ein. «Wherever the crowd goes, run in the other direction. They’re always wrong.» Noch mehr als sonst habe ich das Gefühl, dass zu viele Leute, zu viel Smalltalk, Instagramfilter und gespielte Nettigkeiten mir nicht guttun. Wieder Bukowski: «Because there’s nothing out there. It’s stupidity. Stupid people mingling with stupid people. Let them stupidify themselves.»
Ich fühle mich überfordert und verdammt weit weg von mir selbst. Zwischen mir und meinen Gedanken eine Wand aus Elfbar-Rauch, verschwitzen weissen Hemden, Konfetti auf klebrigem Disco-Boden. «Nur die paar Tage durchhalten, dann hast du wieder Ruhe», rede ich mir selbst gut zu. Als dann der letzte Tag des vergangenen Jahres nach Hesse «sanft umgebracht worden ist» und mich ein brummender Schädel und dreckige Sneakers im 2023 begrüssen, herrscht für ein kurze Zeit endlich Frieden.
«Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.
Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.
Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.»
In den Tagen danach aber wieder das miese, so oft durchlebte Paradoxon: Ich muss allein sein, um zu spüren, dass ich mich nach mehr Nähe, nach besseren, ehrlicheren Beziehungen sehne. Nach einem versöhnlichen Gespräch mit der Mutter, nach einer Umarmung, einem ernstgemeinten Händedruck. «Being alone never felt right. Sometimes it felt good, but it never felt right.»
Es ist dieses ewige Spiel zwischen Wollen und Sein. In der Menge will ich fort und bin ich dann fort lockt schon wieder die Menge. Wieder und immer wieder lese ich über Bukowski und Hesse. «In other words, loneliness is something I’ve never been bothered with because I’ve always had this terrible itch for solitude.» Dann wieder Hesse: «Einsamkeit ist Unabhängigkeit, ich hatte sie mir gewünscht und mir erworben in langen Jahren. Sie war kalt, o ja, sie war aber auch still, wunderbar still und gross wie der kalte stille Raum, in dem die Sterne sich drehen.»
Das Alleinsein, die lautesten Gedanken und Zweifel auszuhalten, muss gelernt, erprobt, ertragen werden. «Keiner ist weise, der nicht das Dunkel kennt.» Wer das nicht kann, flüchtet in die Anonymität der Masse. Laute Stadt, Schlangen vor dunklen Clubs, eine volle S-Bahn alle vier Minuten.
Bukowski: «Beware of those who seek constant crowds. They are nothing alone.» Lässt man sich jedoch auf sich selber ein, lauscht man «den Lehren, die das Blut in einem rauscht», dann reift man nicht nur als Mensch. Man tanzt auch deutlich sicherer, eleganter durch jede Menge. «Nur im Alleinsein können wir uns selber finden. Alleinsein ist nicht Einsamkeit, sie ist das größte Abenteuer!»
06. Januar 2023