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Zum «Semret»-Kinostart in der Westschweiz – Hermela Tekleab im Interview

Ende August 2022 feierte «Semret» Weltpremiere am 75. Locarno Film Festival, danach lief er in den Kinos der Deutschschweiz. Ab dem 24. Mai wird er auch auf den Kinoleinwänden der Westschweiz zu sehen sein. Aus diesem Anlass haben wir mit Nachwuchstalent Hermela Tekleab gesprochen. Sie spielt im Sozialdrama die Teenagerin Joe.

Von Janine Friedrich

Mit dem Film «Semret» erzählt die Schweizer Regisseurin Caterina Mona eine berührende Geschichte, die gehört werden will: Inspiriert von echten Biografien eritreischer Frauen, behandelt die Zürcherin im Film sensible Themen wie Flucht, Vergewaltigung, Migration und Integration mit viel Feingefühl und begegnet den Darsteller:innen auf Augenhöhe. Sie schafft es, sehr realitätsnah aufzuzeigen, wie präsent durchlebte Traumata in einem Menschen mitschwingen. Neben der universellen Mutter-Tochter-Beziehung, interessierte Caterina vor allem die Frage: «Wie werden Traumata, wenn man sie nicht ausspricht und verarbeitet, an die nächsten Generationen weitergegeben?»

Der Film fordert uns auf, unsere Herzen für Geschichten zu öffnen, die womöglich über das Verständnis vieler hinausgehen. Geschichten, die trotz aller Grausamkeiten, den Weg für so viel Schönes ebnen. Er schult unser kultursensibles Verstehen und weckt unser Mitgefühl. So ist «Semret» nicht nur eine Erinnerung daran, wie viel Stärke in der eigenen Verletzlichkeit liegt, sondern auch eine ehrliche Wertschätzung an eine oft ungesehene Bevölkerungsgruppe.

Überblick der Handlung

Seit der Flucht aus Eritrea lebt die alleinerziehende und berufstätige Mutter Semret Dawit (Lula Mebrahtu) gemeinsam mit ihrer Teenager-Tochter Giovanna Joe Dawit (Hermela Tekleab) in einer kleinen Wohnung in Zürich. Semret arbeitet im Spital als Hilfskraft und hofft darauf, die Ausbildung als Hebamme abschliessen zu können. Zur eritreischen Community vor Ort hält die Mutter Abstand, da sie der Kontakt mit Landsleuten an das erinnert, was sie zurückgelassen hat und versucht, zu vergessen. Auch Joe verbietet sie den Kontakt, was jedoch auf Unverständnis und Widerstand trifft. Denn Joe ist mitten in der Phase ihrer Identitätsfindung, sucht die Verbindung zu ihren Wurzeln, stellt immer mehr Fragen zu ihrer Herkunft und ihrem Vater. Doch Semret schweigt. Die durchlebten Traumata wirken währenddessen still und leise in ihr weiter und wühlen ihre schmerzhafte Vergangenheit auf. Immer öfter wird sie mit ihren eigenen Erinnerungen konfrontiert, die durch ihre Verdrängungstaktik bisher noch keine Heilung erfahren konnten. Obwohl Semret innerlich dagegen ankämpft, macht sich der unterdrückte und unverarbeitete Schmerz irgendwann durch Panikattacken bemerkbar. Aus Hilflosigkeit im Umgang damit, sucht die Mutter nachts immer wieder Schutz und Geborgenheit bei ihrer Tochter im Bett. Als sie schliesslich durch Tochter Joe langsam wieder Anschluss an die eritreische Gemeinschaft findet, lernt Semret den ebenfalls aus Eritrea geflüchteten Yemane Tesfai, gespielt von Tedros Teddy Teclebrhan, kennen. Auch wenn er ihr helfen möchte und sie nur zu gut versteht, kann sie sich ihm gegenüber nur langsam öffnen.

Nachwuchstalent Hermela Tekleab ist 2004 in Eritrea geboren. Als sie sechs Jahre alt war, flüchtete ihre Mutter mit ihr und ihren beiden Geschwistern in die Schweiz, wo ihr Vater bereits auf den Familiennachzug wartete. An der Universitätsklinik in Zürich absolviert die heute 19-Jährige derzeit die Ausbildung zur Dentalassistentin. Das Schauspielern war lange vor ihrer ersten Filmrolle in «Semret» eine grosse Leidenschaft, welche Hermela mit grosser Begeisterung verfolgt und auch im Theater aktiv ist.

Hermela, du switcht im Film fliessend zwischen der eritreischen Sprache und Zürcher Mundart und wirfst immer wieder Sätze auf Schweizerdeutsch mit ein, wenn du mit deiner Film-Mutter Semret auf Tigrinya sprichst. War es etwas Besonderes für dich, dass du in deiner ersten Filmrolle gleich beide Kulturen, die du in dir vereinst, ausleben konntest? 

Hermela: Es war tatsächlich etwas Besonderes, weil es für mich total anders war im Vergleich zu meinem alltäglichen Leben: Bei uns daheim reden wir nur Tigrinya. Wenn ich unterwegs bin, dann rede ich nur Schweizerdeutsch. Das war schon immer so. Beide Sprachen gleichzeitig, das kommt in meinem Alltag nicht vor. Im Film hingegen musste ich sie vermischen, damit es natürlicher wirkt. Normalerweise reden auch die meisten Menschen in meinem Alter so, wenn sie zweisprachig aufwachsen. Doch für mich war es total ungewohnt. Trotzdem habe ich es als sehr angenehm empfunden, die zwei Kulturen durch die Sprache enger miteinander zu verknüpfen.

Das heisst, im echten Leben vereinst du zwar schon beide Kulturen, aber gleichzeitig sind sie klar voneinander getrennt?

Genau. Dadurch, dass ich schon lange in der Schweiz lebe, nehmen viele direkt an, dass ich zuhause auch Schweizerdeutsch spreche. Dem ist aber nicht so. Dass ich, wie im Film, Sätze auf Schweizerdeutsch einwerfe, wenn ich mit meinen Eltern rede, passiert nicht. Für sie war es damals, im Gegensatz zu uns Kindern, auch viel schwieriger mit der Schweizer Kultur klarzukommen, die Sprache zu lernen und so weiter. Sie haben schliesslich einen Grossteil ihres Lebens in Eritrea verbracht – ich in der Schweiz. Als ich hier ankam, mit knapp acht Jahren, ging ich erstmal sechs Jahre auf die Tigrinya Schule. Meine Eltern haben sehr viel Wert darauf gelegt, dass ich die Muttersprache richtig beherrsche und sie nicht verloren geht. Für mich hiess es also dann ab der zweiten Klasse: Hochdeutsch, Schweizerdeutsch, Tigrinya und auch Englisch lernen.

Gab es Momente während des Filmdrehs, wo du mit deinen eigenen Themen hinsichtlich Migration und Integration oder auch mit deinen eigenen Ängsten und Gefühlen konfrontiert wurdest? Wenn ja, wie bist du damit umgegangen? 

Sogar schon vor dem Dreh. Als Caterina uns das erste Mal das Drehbuch geschickt hat, habe ich es am selben Abend komplett durchgelesen. Am Schluss musste ich weinen. Ich wusste zwar bereits vom Casting, worum es im Film geht, aber als ich es im Ganzen gelesen habe, mit allen Details und Hintergründen, hat mich das so berührt. Es ist zwar eine Geschichte – aber es ist eben nicht einfach alles frei erfunden. Es ist tatsächlich das Schicksal von manchen Frauen aus Eritrea. Und das lässt mich natürlich nicht kalt. Zudem hatte ich zu Beginn Schwierigkeiten, meine Rolle als Joe wirklich zu fühlen. Und teilweise wurde ich sehr schnell emotional, weil mir die Themen aus dem Film so nah gegangen sind, obwohl es zum Glück keine Berührungspunkte zu meiner Realität gibt. Trotzdem musste ich lernen mich von meiner Rolle abzugrenzen. Parallelen in unseren Leben gibt es so gut wie keine. Nur eine Sache aus dem Film bringe ich mit meinem Leben in Verbindung. Die hat sich sogar erst dadurch ergeben und ist sehr schön.

Welche ist das? 

Die Freundschaft zu meinem Schauspiel-Kollegen Fanuel Mengstab, der Tesheme Tesfai spielt. Wir haben uns am Set kennengelernt und sind seither gute Freunde. Im Film ist Tesheme die erste männliche Person mit eritreischen Wurzeln, mit der Joe eine Freundschaft aufbaut. Und zeitgleich war Fanuel für mich im echten Leben ebenso die erste männliche Person aus Eritrea, mit der ich eine Freundschaft aufgebaut habe. Wir haben nicht nur im Film sehr viel gemeinsam, sondern sind auch hinter der Kamera auf einer Wellenlänge. Und obwohl meine Figur Joe und ich von der Persönlichkeit her so verschieden sind, in der Beziehung zu Tesheme sind wir komplett gleich: Joe fand es interessant, sich mit jemanden auszutauschen, der die gleiche Herkunft hat. Und ich als Hermela eben auch. Der einzige Unterschied ist, dass Joe im Film die Verbindung zur zurückgelassenen Kultur aktiv sucht und ich als Hermela gar nicht. Ich find die eritreische Kultur schön und ich trage sie in mir. Dennoch fühle ich mich innerhalb der Schweizer Kultur viel wohler, da ich sie viel besser kenne und die meisten meiner Freund:innen auch Schweizer:innen sind.

Du sagtest, dass deine Rolle als Joe in Bezug auf die Traumata deiner Film-Mutter Semret,  herausfordernd war und du mehr Mühe hattest, dich in sie hineinzuversetzen und mit all dem umzugehen. Wie hast du es dennoch geschafft?

Am Anfang hab ich mich die ganze Zeit auf meine Figur und ihre Gefühle konzentriert. Doch irgendwann habe ich mich gefragt: Wie schwierig und schlimm muss es dann erst für meine Film-Mutter Semret sein? Wie muss es für eine Mutter sein, so etwas zu erleben? Das Militärcamp, die Vergewaltigung, die Flucht. Sie hat zwar Joe die ganze Zeit belogen und ihr Dinge verschwiegen. Sie hat das jedoch alles nur gemacht, um ihre Tochter zu beschützen. Viel Empathie hat mir schliesslich geholfen, Semret besser zu verstehen und ihr Verhalten nachvollziehen zu können. Uns auch im realen Leben immer wieder darüber bewusst zu werden, dass jeder Mensch von seiner ganz eigenen Geschichte geprägt ist, würde uns allen im alltäglichen Umgang miteinander sicher helfen.

Als du erfahren hast, wer Semret spielt, hattest du zunächst Bedenken, dass ihr als zwei fremde Frauen eine gute Mutter-Tochter-Beziehung für den Film aufbauen könnt. Wie schnell konntet ihr ein vertrautes Verhältnis schaffen und euch aufeinander einlassen? 

Viel schneller als gedacht – und das haben wir vor allem auch Caterina zu verdanken, die Lula und mich quasi ins kalte Wasser geworfen hat. Einen Monat vor Drehbeginn hat sie ein Treffen mit uns beiden organisiert, um zu schauen, ob unsere Mutter-Tochter-Bindung für den Film funktionieren wird. Lula ist aus England eingeflogen und wir haben uns zu dritt bei Caterina daheim in Zürich getroffen, wo sie uns das erste Mal einander vorgestellt hat: «Hermela, das ist Lula. Lula, das ist Hermela. Lernt euch kennen.» Daraufhin ist Caterina gegangen und hat Lula und mich allein gelassen, damit wir uns in Ruhe annähern können. Ich war natürlich nervös und hab mich gefragt, was ist, wenn es nicht funktioniert zwischen uns – sie kam schliesslich extra aus England her. Doch dann hat es einfach keine zehn Minuten gebraucht, bis wir miteinander warm geworden sind. Wir gingen zusammen etwas trinken und haben viel geredet. Es hat direkt Klick gemacht und wir haben uns super verstanden. Aus den angedachten zwei Stunden für unser gegenseitiges Kennenlernen wurden dann dreieinhalb. Und am Schluss hab ich mir gar keine Sorgen mehr gemacht über unsere Mutter-Tochter-Bindung im Film. Lula mochte mich und ich habe sie auch vom ersten Moment an geliebt. Ich höre immer wieder von vielen, dass sie die Bindung zwischen Semret und Joe so stark spüren im Film und eigentlich gedacht hätten, wir kennen uns schon ewig.

Unter ein gemeinsames Foto von dir und deiner Schauspiel-Kollegin Lula Mebrahtu schriebst du, dass es eine sehr lehrreiche Erfahrung war, mit ihr zusammenzuarbeiten. Was waren deine grössten Learnings am Set mit ihr und was hat sie dir mit auf den Weg gegeben, wofür du dankbar bist?

Lula hat mir in dieser kurzen Zeit so viel Wertvolles mit auf den Weg gegeben. Dinge, die ich nie vergessen werde. Zum Beispiel war ich zu Beginn so nervös vor der Kamera, hatte Zweifel. Lula meinte dann vor dem ersten Dreh: «Hermela, schau, was die anderen Leute denken, ist doch egal. Ich weiss, du kannst es und das ist genug – und ganz ehrlich, würdest du es nicht gut können, wärst du gar nicht hier. Caterina ist eine super Regisseurin und sie hätte auch jemand anderes nehmen können, doch sie hat DICH gewählt. Auch sie weiss, dass du gut bist. Jetzt musst du nur noch dir selbst vertrauen.» Ihre Worte haben mir so viel Kraft gegeben. Sie war wie ein Schutzengel für mich. Die ganze Zeit war sie für mich da, wie auch alle anderen vom Cast und das habe ich sehr geschätzt. Bei Lula war es so, dass sie tatsächlich wie eine zweite Mutter war für mich, wie eine Schwester, wie eine beste Kollegin, alles in einem. Mit ihr konnte ich lachen und über alles, was mich beschäftigt, offen reden. Sie hat sich für mein Leben interessiert, auch ausserhalb vom Set, und hat mir immer das Gefühl gegeben, dass ich das alles schaffen kann. Sie sieht in mir etwas, was ich selbst noch nicht sehe und das ist schön. Von ihr kann man so viel lernen! Sie ist eine super Schauspielerin und eine ganz wunderbare Frau.

Würdest du den weissen Kittel an den Nagel hängen, wenn du als Schauspielerin durchstarten könntest? 

Definitiv! (lacht) Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Das Ding ist eben, dass ich die Ausbildung zur Dentalassistentin angefangen habe, weil ich das damals unbedingt wollte. Dass das Schauspielern eine echte berufliche Option für mich sein könnte, hätte ich nie gedacht. Bisher war es immer nur mein Hobby. Erst jetzt, seit ich in meinem ersten Film mitgespielt habe, habe ich gemerkt, dass ich am Set erst richtig aus mir herauskommen und über mich hinauswachsen kann. Ich weiss jetzt, dass ich das Talent dafür habe und es macht mir total Spass – von dem her, wenn ich jetzt die Wahl hätte, würde ich auf jeden Fall Schauspiel machen. Der erste Schritt zum Durchstarten ist ja nun getan und ich freue mich auf alles, was noch kommt.

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