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«Man muss in unserer Grundphilosophie nachbessern – wie der Globale Norden den Globalen Süden sieht» – Patrice im Interview

Reggae-Künstler Patrice war kürzlich auf grosser Tour. Nach seinem langen Rückzug, für den seine Fans viel «Stamina» brauchten, markiert er mit dem neusten Album «9» seinen ganz persönlichen Neuanfang. Im Interview teilt er seinen Grundoptimismus sowie seine Einstellung zur kulturellen Annäherung.

Von Janine Friedrich

Seit knapp 25 Jahren zählt der gebürtige Kölner nicht nur zu den beliebtesten, sondern auch zu den erfolgreichsten Reggae-Acts Deutschlands. Von festgelegten Genres, Stilen oder Definitionen lässt sich Patrice allerdings nicht limitieren. So entsprang seiner kreativen Schöpferkraft ein passenderes Wort für seine Musik: «Sweggae». Seine Songs vereinen Klänge und Sounds aus verschiedenen Ländern und lassen unterschiedliche Techniken mit einfliessen. In den Texten zelebriert der Kosmopolit mit einer absoluten Grundzufriedenheit das Leben und gibt gleichzeitig allen Emotionen Raum. Die Zahl 9 im Albumtitel repräsentiert dabei die Vogelperspektive eines Tornados und zeigt, dass selbst die grössten und chaotischsten Veränderungen im Kern innere Ruhe ausstrahlen.

Die tiefgründigen Themen, die der 44-Jährige mit sierra-leonischen Wurzeln in seine Musik packt, finden sich auch im Gespräch wieder. Wir trafen ihn in Zürich vor dem Konzert. Durch seine wichtigen und inspirierenden Botschaften für die Welt, merkt man schnell, dass er das Herz am rechten Fleck hat.

Zwischen dem Moment, wo neue Songs von dir fertig produziert sind, und dem Moment, wo sie veröffentlicht werden, liegt ja etwas Zeit. Wie geht es dir in dieser Zeit?

Patrice: Für mich selbst ist ein Song erst richtig abgeschlossen, sobald er veröffentlicht ist. Bis dahin denke ich immer: Okay, ich kann noch etwas ändern oder noch Einfluss nehmen auf das Ganze. Doch wenn er raus ist, ist er aus meiner Hand und ich lasse ihn gehen. Es hat immer ein bisschen was von Trauer. Aber auch Freude im Sinne von: Jetzt gehört er der Welt und nicht mehr mir.

Hast du auch manchmal Zweifel?

Also, ich denk mir immer eher: Es war ein ehrenhafter Versuch. Bin ich an meinen eigenen Anspruch herangekommen? Meistens Nein (lacht). Doch das Ding ist: Jeder Song sollte am Ende genau so sein, wie er ist. Ich bin auch nur ein Mensch – es muss nichts perfekt sein. Sonst müsste man ja auch aufhören, wenn man den perfekten Song geschrieben hätte, weil danach nichts mehr kommen kann. 

Das stimmt! Und sobald ein neuer Song von dir der Welt gehört, kommen noch die Interpretationen deiner Fans hinzu.

Ja, das ist dann deren Song. Leute können einen Song von mir zu ihrem Song machen und das darin sehen, was sie darin sehen wollen. Ich mag nicht, wenn man mich fragt, was ich mit meinen Songs sagen will, weil ich damit anderen die Möglichkeit nehmen würde, die eigene Bedeutung hineinzuprojizieren. Und oft sehen andere Dinge darin, die mir selbst nicht bewusst sind, weil ich es beim Schreiben einfach fliessen lassen habe. Deshalb finde ich es sehr spannend, wenn jemand vielleicht einen Aspekt darin sieht, den ich selbst nur unterbewusst gefühlt habe und der dann plötzlich sichtbar wird – auch für mich.

Und wie ist es, wenn du ältere Songs spielst, die quasi schon lange abgeschlossen sind? 

In der Live-Welt sind die Lieder nie abgeschlossen. Sie sind immer wieder offen und ich kann immer wieder daran weiterarbeiten. Deswegen mag ich es so sehr, live aufzutreten, weil man sich nicht so festlegen muss. Ich habe mein altes Ich immer mit dabei und lerne, es zu integrieren. Wir kennen das ja alle: Wir finden sicher nicht mehr komplett alles cool, was wir früher gemacht haben, aber es hat dennoch einen enormen Wert.

Du schätzt also all dein Erschaffenes, weil es zu dir gehört?

Genau. Heute würde ich es vielleicht anders machen, aber ich weiss eben, wie wichtig es war, dass ich alles, was ich bisher gemacht habe, genau auf diese Weise gemacht habe. Wie mein erstes Album. Dazu sagte mir letztens jemand, der eigentlich gar nicht viel mit meiner Musik zu tun hat, dass ihn damals «Ancient Spirit» am meisten berührt hat, weil er es am authentischsten wahrgenommen hat. Ich denke, dass das so ist, weil ich in diesem Moment so stark an dieses Album, an meine Musik und an mich geglaubt habe. Dieser Anfängerspirit, diese krasse Überzeugung und der komplette Tunnelblick sind mit hineingeflossen. Das spüren die Leute und es resoniert mit ihnen.

Apropos hineinfliessen: Wie kommst du denn in den richtigen Bewusstseinszustand, um es fliessen zu lassen und die entsprechende Energie in deine Alben zu geben?

Schwer zu sagen. Es ist eben nicht dieses: Man setzt sich irgendwo hin, alles ist perfekt, man macht Räucherstäbchen an und dann kommen die Ideen (lacht). Es kann sein, dass man im schlimmsten Hotel sitzt und das chemische Putzmittel riecht und inspiriert wird. Am besten ist es, wenn man sich ganz bewusst in Situationen begibt, die echt sind oder nah am Leben. Dann ist die Energie auch echt.

Hast du ein paar Beispiele für Techniken oder Stile, die dich inspirieren? 

Cody ChesnuTT hat zum Beispiel ganz viel in Ich-Form über das Leben von anderen geschrieben und hat sich da reingedacht. Wenn er irgendeinen Typen gesehen hat, der auf Crack war, hat er das auf sich bezogen und daraus eine Zeile für einen Song gemacht: I used to smoke crack back in the day. Oder es gibt auch den sogenannten Collagen-Style. Ich könnte jetzt zum Beispiel mit ein paar Worten die Szene draussen beschreiben: Asian kitchen, flowers, box – das wäre die erste Line. A soul lost in the street – das wäre die zweite, und so weiter. Da kommt etwas sehr Poetisches heraus, was einem echten Moment entspringt. 

So wie auch die besonderen Momente, die du bei Auftritten durch die Nähe zum Publikum  entstehen lässt.

Voll! Manchmal schaue ich die Leute im Publikum an und denke mir: Wow, ich wäre auch gerne so frei wie sie – und sie helfen mir dann dabei. So ein Konzert ist für alle immer eine gute Übung, um aus sich herauszukommen. Wenn ich teilweise sehe, wie es die Leute im Publikum für sich genommen haben, und ich merke, was ihnen solche Momente bedeuten – dann inspiriert mich das ebenfalls sehr!

Du suchst also immer wieder nach etwas, das echt ist.

Ja, für mich ist das Ziel eher Wahrhaftigkeit. Es muss echt sein und es darf alles sein. Jede Emotion, auch Trauer oder Leid, darf man intensiv fühlen, wenn sie da sind. Denn nur wenn man alles fühlt, haben die Erfahrungen erst eine Bedeutung. Ausserdem hat man sonst keine Relation. Wenn man immer happy wäre, wäre happy irgendwann normal. Doch auch die herausfordernden Phasen im Leben sind gut und man nimmt etwas daraus mit. Ich mag es hin und wieder mal traurig oder melancholisch zu sein. Dem sollte man gar nicht aus dem Weg gehen. Nur Glücklichsein ist also nicht das Ziel – und selbst wenn, setzen wir uns auf dem Weg dahin oft selbst die Limits.

Absolut. Also ist auch alles eine Frage der Einstellung?

Ja, Mindset ist alles. Das ist eine Entscheidung, die wir selbst treffen können. Am Ende des Tages ist beides wahr: Das Glas ist sowohl halbvoll als auch halbleer. Die Frage ist: Was bringt dir mehr? Wenn du willst, dass das Glas ganz voll wird, dann bringt es dir mehr, zu sagen, dass es bereits halbvoll ist, anstatt halbleer. Einfach, weil du dann etwas anderes in dein Leben holst. Du fokussierst dich auf die positiven Dinge und kannst sagen: Wow, wie viel ich schon geschafft habe, jetzt kommt das nächste. Ich glaube, es ist einfach dienlicher. Ein Freund von mir sagt immer: You either do things to be happy or you do things to be sad.

Das ist genau der ansteckende Grundoptimismus, der sich auch immer wieder in deinen Songs spiegelt. Woraus schöpfst du das?

Als ich elf war und mit dem Tod meines Vaters konfrontiert wurde, waren das die Schlüsse, die ich daraus zog. Ich bin nicht so sehr in Trauer verfallen, sondern dachte mir in verschiedenen Situationen: Wow, was für ein Geschenk, dass ich das hier erleben darf, und wie schade für diesen Menschen, dass er das nicht erleben darf. Da habe ich verstanden, dass man, wenn man schon das Glück hat, am Leben zu sein, das auch wirklich geniessen und auskosten sollte. Denn würde die Person sehen, wie man jetzt in so einem Hamsterrad das Leben durchläuft, würde sie sich auch denken: Krass, du bekommst diese Möglichkeit, die ich jetzt gerade gar nicht habe, und das machst du daraus? Es ist wichtig, dass wir auch für die Menschen leben, die es nicht mehr können.

Schöne Worte. Du hast dich dadurch auch sehr früh mit existenziellen Fragen beschäftigt. 

Ja, denn dort, wo ich aufgewachsen bin, war ich sehr anders als der Rest. Dadurch musste ich mir gewisse Fragen sehr früh stellen: Wer bin ich? Woher komme ich? Was ist mein Sinn hier? Damals gab es einige Momente, in denen ich nicht positiv gestimmt war. Nicht, dass ich irgendwie bitter war, aber es gab auch lange Phasen, aus denen ich mich erst herausdenken musste.

Wo befinden wir uns denn, deiner Meinung nach, heute in Bezug auf kulturelle Annäherung?

Ich glaube, dass man noch immer in unserer Grundphilosophie nachbessern muss. Also, wie der Globale Norden den Globalen Süden sieht. Alle müssen mit sich selbst und mit der Geschichte der Länder etwas ins Gericht gehen und daraufhin besser handeln, um auch wieder ernst genommen zu werden. Wir haben immer noch eine grosse Diskrepanz zwischen sogenannten Bubbles: Man lernt in dem einen Land das, in dem anderen das und am Ende ist man gegeneinander, weil man auf komplett verschiedenen Wahrheiten aufbaut. Manche Sachen sind einfach so tief in unserer kulturellen DNA verankert. Wir könnten das alles sehen und auch besser handeln, aber wir wollen manchmal nicht erwachsen werden, im kollektiven Sinne. 

Was glaubst du, wie man das aufbrechen könnte?

Durch Annäherung, Offenheit und auch Neugierde. Damit sollte schon sehr früh begonnen werden. In jungen Generationen braucht es viel mehr Austausch und eben eine bewusste Identifikation mit anderen Kulturen, Lebensrealitäten und Menschen. Es ist wichtig, dass man miteinander und in Freundschaft aufwächst. Nur so kann man Dinge gemeinsam erfahren und daraus etwas lernen. Wenn man zum Beispiel miterlebt hat, wie der beste Freund in der Kindheit aufgrund seiner Herkunft ausgegrenzt wurde, dann wird man später in einer ähnlichen Situation nicht sagen: Der oder die soll sich nicht so anstellen. Sondern man weiss genau, wie sich derjenige oder diejenigen wohl fühlen muss, weil man es einmal miterfahren durfte. Wir müssten also eigentlich nur gemäss unseren Möglichkeiten leben.

18. März 2024

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