Wir fahren stundenlang über kurvige Passstrassen. Trotz der bildschönen Talansichten und pittoresken Landschaftsbildern des Engadiner Nationalparks macht sich Nostalgie in mir breit. Sehnsucht, wie jeden Sommer, nach gerade dem, was sich im Hier und Jetzt nicht erblicken lässt. Sehnsucht nach kühlenden Meeresbrisen, verflossenen Sommerliebschaften und Pastis Bleu mit Wasser und Zitrone auf den kreideweissen Kalkklippen vor der stickigen Dreizimmerwohnung in Marseille. Der Geschmack der faserigen Bavette Steaks vom Metzger in Noailles, einzig noch eine vage, salzig-fettige Erinnerung an den vergangenen Sommer. Und gleichzeitig Appell an einen neuen.
Die Sehnsucht nach Marseille, die Sehnsucht nach Sommer, ist keine vergangene. Es ist vielmehr ein Sehnen nach Erleben als ein Nachtrauern dem Erlebten. Die Sehnsucht nach einzigartigen, neuen und frischen Erinnerungen, die es nun zu schaffen gilt. Nach neuen Sprüngen ins Mittelmeer. Nach neuen Sprüngen in das Ungewisse – so wie das die Jugendlichen in Marseille schon lange tun. Nach neuen Eindrücken. Nach Kindergeschrei, das altern kann. Nach neuen Bekanntschaften im Plaine Quartier. Nach alten Gerüchen in einem neuen Jahr. Jahr für Jahr. Die Gedanken fangen an, sich nachzurennen. Die Hitze verbrennt den Verstand. Und jegliche Rationalität. Für einen Moment.
Fabio, meinem Beifahrer geht es genauso. Das spüre ich. Wir schweigen uns an; die Blicke in die Ferne gerichtet. Nebeneinander, an ganz verschiedenen Orten. Wohin er sich wohl erinnert? Ein Anruf kommt rein, doch er geht nicht ran. Sommer. Der Schweiss perlt uns von der Stirn. Draussen vor dem Fenster ziehen die Nadelbäume vorbei. Begleitet von Kuhglockengeläut.
In der ganzen Welt scheint die Sehnsucht die Überhand zu nehmen. Die Bevölkerung sehnt sich nach einem handfest nachlesbaren live Thriller, einem Echtzeit-Drama und so berichten die Mainstream Medien über die Suchaktion nach einem vermissten U-Boot einer millionenschweren Exkursion. Titanic nochmals live. Und in Frankreich schaut man wieder «La Haine». Passt auch. Rest in Peace Nahel! In Russland spielt man Desertionsaktionen hoch und zieht Vergleiche zur Oktoberrevolution. Aber eben; auch nur für Augenblicke.
Zeitgleich: Einige Minuten von der Grenze entfernt wird ein Jogger von einer Bärenmutter zerfleischt. Das berichten zumindest die Nachrichten aus dem Autoradio. Die Diskussion um die Grundrechte von wilden Raubtieren knüpft an den Sehnsuchtsgedanken an. An den meinen, fluchtartig einen Szenenwechsel zu forcieren. Und an denen, der lokalen Bevölkerung, sich endlich wieder dem bewaffneten Widerstand gegen die natürliche Ordnung widmen zu dürfen. Mag wertend klingen. Soll es nicht sein. Perspektiven.
An der nächsten Raststätte werden wir uns eine Zigarette genehmigen. Durchatmen. Im Sommer; unterwegs.
05. Juli 2023