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«Die Welt ist nicht auszuhalten und mein Schädel brummt»

Es ist vier Uhr morgens. Und ich führe ein (fiktives) Gespräch über die Welt, ihr Elend, Schreibblockaden und Belanglosigkeit.

Von Gisèle Moro

Regungslos liege ich in meinem Bett. Im Wechsel starre ich an die Decke, dann auf mein leeres Google-Dokument. Letzteres starrt fordernd zurück. Die Deadline naht, schon bald muss der Artikel raus, mein letzter Text wurde am 4.Oktober 2023 veröffentlicht. Die Ecke oben rechts in meinem Bildschirm verrät: 04:20. Ich lege mir Aschenbecher und Feuerzeug zurecht.

Ursprünglich sollte ich einen Text über «Daddy issues» schreiben. So schrieb ich es zumindest in meinem letzten Pitch. Doch das fühlt sich gerade einfach falsch an. So unfassbar klein und belanglos. Es ist bitter und doch ist es wahr: Auf dieser Welt finden mehrere Genozide statt. In Palästina, dem Kongo, dem Sudan, Syrien und so vielen weiteren Orten der Welt werden Menschen unterdrückt, gefoltert, ausgehungert, massakriert – wie soll ich da bitte über Daddy Issues schreiben? Gleichzeitig fühle ich mich ein wenig wie eine Hochstaplerin. Denn das ist doch alles nicht neu. Nur jetzt schauen wir hin und handeln – wie vielleicht nie zuvor.

Die Welt ist nicht auszuhalten und mein Schädel brummt. Es ist, als wäre da ein dichter Nebel, der mir den Zugang zu meinen eigenen Gedanken verwehrt. Nichts macht mehr Sinn. Nichts ist mehr greifbar.

Wie sagt man immer so schön: just breathe. Vielleicht kann ich diesen Nebel ja einfach wegatmen? Okay, mal sehen – tief ein und aus.

GoogleDoc: «Hallo?» …

GoogleDoc: «Ja, was ist jetzt? Haust du heute noch in die Tasten oder muss ich für immer so nackig bleiben? Brrr…ist mir kalt. HATSCHUUUUU!»

Ich: «Ehm…Gesundheit..? (Note to self: Finger weg von Lemon Haze…).»

GoogleDoc: «Also?»

Ich: «Ja. Ich meine, nein. Ich hoffe nicht, dass du noch lange so nackig bleibst. Aber gerade kann ich irgendwie nicht schreiben.»

GoogleDoc: «Wie meinst du das?»

Ich: «Ich will und ich probier’s, aber es kommt nichts…»

GoogleDoc: «Haha, klingt ein bisschen, als würdest du gerade in einer Arztpraxis von deinem Stuhlgang berichten. (zieht einen Arztkittel an) Ich empfehle eine ballaststoffreiche Kost wie Vollkornbrot oder Leinsamen, ungesüsste Tees, viel Wasser und…»

Ich: «Entschuldige bitte?!»

GoogleDoc: «Spass beiseite. Was du da oben beschrieben hast, klingt für mich nach einer ziemlich fiesen Schreibblockade.»

Ich: «Ja, vermutlich hast du recht. Ich versuche wirklich schon seit Tagen etwas zu Papier zu bringen. Ich habe mir den Kopf in tausende Einzelteile zerbrochen, auf der Suche nach dem einen funkelnden Splitter, durch den alles wieder zusammenpasst. Durch den ich meinen Kopf nach und nach wieder zusammensetzen kann, das Runzeln in meinen Augenbrauen verschwindet und meine Finger, wie von Zauberhand diktiert, mühelos über mein Keyboard tänzeln. Ein cleverer Satz nach dem anderen würde sich mir dann offenbaren. Die Realität sieht aber anders aus. Der funkelnde Splitter bleibt verschwunden – nein, vielmehr versteckt. Versteckt hinter dem Nebel. Und umso mehr ich mir diesen Nebel wegwünsche, darauf beharre, dass er doch endlich verschwinde, um so undurchschaubarer wird er. Relatable oder eher nicht so?»

GoogleDoc: «Joa, schon. Was meinst du, woher dieser Nebel kommt?»

Ich: «Ich glaube, ich habe mir zu viel aufgeladen, denn die Welt ist einfach zu viel. Ich habe generell den Anspruch an mich selbst, auf Dinge, die falsch laufen, aufmerksam zu machen und mich beispielsweise durch das Schreiben für sie einzusetzen. Ich wollte wütend schreiben, tobend über Palästina, über die Coltan-Minen im Kongo, die (Kinder-)Leben, die dabei verloren gehen. Ich wollte schreiben über den Sudan, über die Vertreibung, den Mord. Darüber, was für eine Schande die Berichterstattung und der Umgang im Westen mit all diesen Themen ist, in Deutschland allem voran der Umgang mit dem Genozid in Palästina. Darüber, dass es uns alle was angeht! Aber für mein Vorhaben war nicht genug Zeit und let’s face it: Ich bin auch einfach nicht qualifiziert genug. Gleichzeitig betroffen von so vielem – privat, politisch, sozial – hat mein Kopf einfach dichtgemacht. Jedes Mal, wenn ich eingenistet in meiner Winterdepression versucht habe, einen Satz zu formulieren, war da nichts ausser Brei. Als hätte ich vergessen, wie man schreibt.»

GoogleDoc: «Aha, aha, verstehe. Das heisst, vor 2023 war also alles rosig auf der Welt?»

Ich: «Nein, natürlich nicht.»

GoogleDoc: «Du hast es vorhin selbst gesagt: Nichts hiervon ist neu. Vor drei Monaten bist du das Schreiben doch auch nicht so angegangen. Haben dich die Missstände der Welt da nicht interessiert?»

Ich: «Doch, haben sie. Ich kann dir sicher sagen: Auch damals habe ich hingeschaut. Ich hätte vielleicht mehr tun können, womöglich könnte ich auch jetzt mehr tun. Aber ich versuche mein Bestes.»

GoogleDoc: «Du hast den Anspruch an dich selbst und andere Autor:innen auf politische Missstände aufmerksam zu machen.»

Ich: «Nein, zuerst an mich selbst.»

GoogleDoc: «Ich denke mir nämlich: Würden alle nur über die Gräueltaten der Welt schreiben, was dann? Dürfte man an nichts anderes mehr denken? Du hast heute doch auch schon über Pommes, Kapitalismus, deinen batterielosen Vibrator, das Patriarchat und die fünfte Staffel «Glow Up» nachgedacht. Was ist mit dem eigenen Leben?»

Ich: «Mhh, ich wusste nicht, dass Google-Dokumente eine Whataboutism-Funktion haben…»

GoogleDoc: «Touché.»

Ich: «Es muss Stimmen geben, die über die unzähligen Dinge schreiben, die auf dieser Welt falsch laufen. Und wir können uns nicht immer hinter dem Argument verstecken, dass man auch mal abschalten muss. Selfcare schön und gut, aber anderen Menschen dieser Welt ist diese Option nicht gewährt.»

GoogleDoc: «Ja.»

Ich: «Ausserdem kann und möchte ich anderen Menschen nicht vorgeben, worüber sie schreiben sollten. Denn nur weil jemand nicht über Krieg, Zerstörung und Genozid schreibt, heisst das noch lange nicht, dass diese Person einverstanden mit all dem ist. Wer weiss, eventuell findet der Aktivismus woanders statt. Aber es kann auch sein, dass die schreibende Person einen Dreck auf all dieses Elend gibt. Dann ist das nochmal was anderes. Genauso macht der Einfluss und die Reichweite, die eine Person hat, meiner Meinung nach einen Unterschied. Es ist kompliziert und ich denke nicht, dass ich dir gerade eine bessere Antwort geben kann. Wie dem auch sei, ich spreche hier nur von mir selbst.»

GoogleDoc: «Das ist aber sehr diplomatisch von dir. Und dein Ziel bei der ganzen Sache? Einen Text zu schreiben, der die Welt verändert? Ha!»

Ich: «Ich will einen Text schreiben, der irgendwas macht. Mir gefällt die Idee, dass mein Schreiben Menschen zumindest ins Grübeln bringt. Oder zum Schmunzeln. Oder anderweitig berührt. Mein Text kann, aber muss per se nichts verändern.»

GoogleDoc: «Na schau mal einer an, du schreibst.»

Ich: «Ich kann es mir leisten, mir diese Fragen zu stellen, während unschuldige Menschen sterben.»

GoogleDoc: «Ja.»

Ich: «Wie finde ich eine gesunde Mitte zwischen Aktivismus, Handlungsdrang, Selbsterhaltung und Self-Care?»

GoogleDoc: «…»

Ich: «Was ist wichtig und was ist es nicht?»

GoogleDoc: «Hä, woher soll ich das wissen. Ich bin nur ein digitales, weisses Blatt Papier.»

Ich: «…»

GoogleDoc: «Gut, ich weiss nicht, was mit dir ist, aber ich würde mich gern in einen kleinen Papierball knüllen und in den Ruhemodus fahren. Willst du noch was loswerden?»

Ich: «Sind wir nicht alle frei, ist niemand frei.»
GoogleDoc: «…»
Ich: «Ich weiss immer noch nicht, worüber ich schreiben soll.»

28. Dezember 2023

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