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Antigymnastik – Selbstwahrnehmung durch bewusste Bewegung 

Schon allein der Name dieser alternativen Methode der Körperarbeit polarisiert. Dabei scheint der Begriff zunächst nur auszusagen, was es nicht ist: herkömmliche Gymnastik. Um es zu verstehen, braucht es die Erfahrung durch den eigenen Körper und vor allem die Bereitschaft, alle bisher bekannten Konzepte über diesen und die eigene Gesundheit über den Haufen zu werfen.

Von Janine Friedrich

Man sagt uns, dass der Körper kräftiger werden muss, dass er sich abmühen und schwitzen muss. Also schwingen wir uns auf das Fahrrad, hängen uns an die Sprossenwand, joggen bis wir ausser Atem sind und trainieren mit Hanteln. Dabei sollten wir zuerst einmal die Augen öffnen, und uns die Zeit nehmen unseren Körper zu betrachten, um zu verstehen, wie er funktioniert.

Thérèse Bertherat

Kürzlich fiel mir das Buch «The Body Has Its Reasons: Self-Awareness Through Conscious Movement» (deutscher Titel: «Der entspannte Körper») der französischen Physiotherapeutin Thérèse Bertherat (1931-2014) in die Hände. Sie ist die Schöpferin der ganzheitlichen Methode Antigymnastik®. In den siebziger Jahren – zur Blütezeit von Bodybuilding, Fitness und Körperkult – begann sie einen gegenläufigen und einzigartigen Ansatz zu entwickeln. Einen, der unseren Körper als komplexes, intelligentes Wesen mit einer Geschichte und einem herausragenden Gedächtnis in seiner Ganzheit betrachtet. Einen, der erzwungene Schönheitsideale und mechanisches Training auf der Strecke lässt. 

Die Methode der Antigymnastik® wurde vor allem von den Lehren dreier Menschen geprägt: dem austroamerikanischen Arzt, Psychoanalytiker und Sexualforscher Wilhelm Reich; der Begründerin der ganzheitlichen Gymnastik Lily Ehrenfried und besonders stark von der Physiotherapeutin Françoise Mézières. Von  Mézières, Entwicklerin der Mézières-Methode von 1948, liess sich Thérèse Bertherat  ausbilden. Diese Methode war damals bereits eine Revolution, gar ein Widerspruch zu jeglichem Wissen über Gesundheit, Krankheit und den Körper. Entgegen den bis dato geltenden Grundlagen der Physiotherapie, begriff sie den Körper als Einheit und arbeitete eine neue Vorstellung der menschlichen Anatomie aus, bei der alle Elemente voneinander abhängig sind. Bertherat wollte bei diesem Ansatz allerdings nicht stehenbleiben und begann die erlernte Mézières-Methode weiterzuentwickeln. So studierte sie über die Jahre viele weitere Arten der Körperarbeit, wie zum Beispiel Bio-Energetik, Gestalttherapie und die Behandlungsmethoden der Traditionellen Chinesischen Medizin. Auch die Kenntnisse der grossen Psychoanalytiker Freud und Jung flossen mit in ihren Ansatz ein. Schliesslich entwickelte sie aus all ihrem Wissen die Antigymnastik®. Anhand ihrer Methode arbeitete sie intensiv mit ihren Patienten und lernte Zusammenhänge von Atmung, Psyche, Gedanken, Emotionen, bestimmten Themen und physischen Schmerzen und Verspannungen noch besser zu verstehen. Immer wieder hinterfragte sie bekannte Vorstellungen über den menschlichen Körper. Sie verstand, dass uns allen ein überaus intelligentes Selbstheilungspotenzial innewohnt, welches wir nie gelernt haben richtig zu nutzen.

Als Kinder lernen wir nämlich alle nur unser notwendiges Repertoire an Bewegungen. Seither wiederholen wir viele dieser circa einhundert angeeigneten Bewegungsmuster täglich, in unterschiedlichsten Variationen. Sie passieren meist wie von selbst, sind tief verwurzelt in unserem Körpergedächtnis. Darüber nachzudenken oder gar zu hinterfragen, wie wir uns durch die Welt bewegen und ob wir uns selbst genug Raum geben, scheint überflüssig. Wir glauben schliesslich zu wissen, wie Bewegung geht. Wir glauben sogar das Haus, das wir bewohnen – unseren Körper – gut zu kennen. Doch dieser Glaube beginnt zu bröckeln, wenn wir realisieren, dass wir unsere tatsächlichen Möglichkeiten als Menschen nicht einmal annähernd ausschöpfen. Denn unser Körper ist zu über zweitausend(!) Arten von Bewegungen fähig. Er ist sogar genau dafür geschaffen und gedacht. Wie viel mehr Lebendigkeit steckt also in uns, die nur darauf wartet, erweckt zu werden?

Oder anders gefragt: Warum lernen wir nicht einfach von Anfang an die ganze Bandbreite all dieser Bewegungsformen, wenn sie für uns so natürlich zu sein scheinen? Das liegt zum einen sicher daran, dass das ganzheitliche Verständnis unseres Wesens noch zu wenig verbreitet ist. Zum anderen aber auch daran, dass wir seit Beginn unseres Lebens damit beschäftigt sind, uns anzupassen und unseren Körper in gewisse Ausdrucksformen und Bewegungen zu zwängen. Schon von Kindesbeinen an, ohne uns darüber bewusst zu sein, reagieren wir auf familiären, sozialen und moralischen Druck: Wir sollen so stehen. Sollen das nicht anfassen. Uns nicht anfassen. Nicht weinen. Müssen anderen die Hand geben. Nett sein. Uns verteidigen. Uns beeilen. Sollen uns zusammenreissen. Nicht rennen. Nicht aus der Reihe tanzen. Still sitzen. Uns fügen. Wir sollen schon immer vieles, eben nur nicht auf das hören, was unser Körper tatsächlich zum Ausdruck zu bringen vermag. So lernen wir sehr früh, uns dem Willen anderer zu beugen; unseren Körper zu beugen, regelrecht zu verbiegen. Wir lernen zu unterdrücken, was eigentlich ausgedrückt werden will. Und irgendwo da scheint womöglich auch das Gefühl für die Einheit von Körper, Geist und Seele auf der Strecke geblieben zu sein. Denn wenn wir Dinge tun, die ein Teil von unserem Selbst gar nicht wirklich tun will, dann sind wir alles andere als eins mit uns und es entsteht eine innere Spaltung. Es ist jedoch nicht nur das Aussen, was uns Zwänge aufdrückt. Allzu oft sind wir es auch selbst, und zwar dann, wenn wir davon reden, was wir alles tun müssen. Wir müssen arbeiten. Wäsche waschen. Einkaufen gehen. Dadurch vermitteln wir unserem Körper vor allem eines: dass wir das alles gar nicht aus freien Stücken tun wollen, sondern es müssen. Und wer will schon etwas müssen? Irgendwie logisch, dass dadurch sehr viel Anspannung in unseren Muskeln entsteht und wir uns selbst in unserer freien Bewegung und Ganzheit einschränken. 

Der bereits genannte Arzt und Psychoanalytiker Wilhelm Reich wusste, dass all unser Erlebtes in unseren Muskeln gespeichert wird und dass diese Informationen auch der Schlüssel zur Lösung von jeder Anspannung, jedem Schmerz, jeder unterdrückten Emotion sind: 

«Every muscular rigidity contains the history and the meaning of its origin. Its dissolution not only liberates energy, but also brings back into memory the very infantile situation in which the suppression had taken place.» 

Die Verspannungen unseres Körpers haben also alle einen Ursprung und eine Geschichte. Wenn wir genauer hinsehen, finden wir die Ursprünge für unser Leid: Zum Beispiel in einer schmerzenden Hüfte, einem hervorstehenden Bauch, einer zusammengekauerten Schutzhaltung des Oberkörpers oder einer Schulter, die höher ist als die andere. Aber auch Schlafstörungen, Verdauungsprobleme, Bluthochdruck, sonstige Beschwerden spielen genauso eine Rolle, wie die Worte, die wir nutzen. Alle Elemente stehen miteinander in Beziehung. 

Bei der Antigymnastik® werden deshalb Bewegungen praktiziert, die den Körper und seine individuelle Geschichte und Anatomie respektieren. Es geht vor allem darum, den eigenen Körper neu zu entdecken, ihn richtig zu spüren und eine feinere Wahrnehmung für ihn zu kultivieren. Deshalb wird Antigymnastik® auch nicht vor einem Spiegel ausgeübt. Es geht wirklich um das reine Spüren. Dadurch lernen wir zu verstehen, wie sich der Körper über die Jahre angepasst oder geschützt hat. Diese bessere Kenntnis über uns selbst führt uns dann zurück zur Ganzheit unseres Wesens und eröffnet uns völlig neue Bewegungsmöglichkeiten. Am Anfang wissen wir womöglich noch nicht, wie wir bis dato leblose, nicht-genutzte Muskelgruppen aktivieren können. Doch mit der Zeit erweitern wir unseren muskulären Wortschatz so weit, dass wir sogar in der Lage sind, uns selbst von Verspannungen, Muskel- und Gelenkschmerzen zu befreien. Wichtig ist, dass der Leistungsdruck bei dieser Methode komplett entfällt. Jede:r findet durch die bewussten Bewegungen und Atemzüge in seinem ganz eigenen Rhythmus zu einem harmonischen Zustand zurück.  

Da ich nun schon länger intuitives Tanzen und intuitives Yoga in meinen Alltag integriert hab und versuche, besser darauf zu hören, wie sich mein Körper von innen heraus bewegen will, hat mich das Konzept der Antigymnastik® direkt angesprochen. Da jede*r seine ganz eigene Erfahrung mit dieser Methode machen soll, will ich nicht zu viel über meine persönliche Erfahrung damit schreiben. Nur so viel: Ich war überrascht, wie anders (gut anders) sich mein Körper angefühlt hat, als ich es zum ersten Mal ausprobierte, und mache es nun regelmässig innerhalb einer Gruppe in Bern.

Wer es zuhause ausprobieren möchte, hier ist eine Videoanleitung. Auf dem Channel gibt es viele weitere: 

12. August 2023

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