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Zwischen Innen und Aussen: Die Entmystifizierung des Körpers – Jamuna Mirjam Zweifel im Interview

Die 50-minütige getanzte Parade «Holes» integriert Klang und Bewegung zu einem gleichsam harmonischen und disharmonischen Wechselspiel, das die Grenzen des körperlichen Ausdrucks auslotet. Wir haben uns mit der Choreografin Jamuna Mirjam Zweifel über den experimentellen, kollektiven und multisensorischen Charakter des bald erscheinenden Projekts ausgetauscht.

Von Joshua Amissah

Das menschliche Dasein wird oft als ein geschlossenes System wahrgenommen, ein Körper als undurchdringliche Einheit. Mit «Holes» wird es versucht, diesen Blickwinkel zu verändern. Das Tanzstück, inspiriert durch den Gedanken des Körpers als «löchriges Verwertungssystem», bietet eine Auseinandersetzung mit der Durchlässigkeit und Transformationsfähigkeit des menschlichen Körpers. Diese innovative Idee entmystifiziert den Körper und zeigt ihn als ein Gefäss, das durch seine Öffnungen und Porosität ständig im Austausch mit seiner Umgebung steht. Der Körper wird hier zur Hommage an das Konzept des Komposts, in dem Innen und Aussen in ständiger Wechselwirkung stehen und Informationen verarbeitet und wieder ausgesondert werden. Diese Perspektive fordert uns auf, das Hier und Jetzt bewusster wahrzunehmen und zu erleben, wie wir Informationen und Erfahrungen durch unsere körperlichen «Löcher» aufnehmen und verwerten.

«Holes» äussert sich als eine fühlbare Auseinandersetzung mit menschlichen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Transformationszuständen im Plural. Eine kollektive Erforschung von emotionaler Verletzlichkeit, Identität, Heilung und Resilienz sowie der physischen und psychologischen Auswirkungen von Klang und Stille.

Mit uns spricht die Schweizer Choreografin, Künstlerin, Performerin und Tanzaktivistin Jamuna Mirjam Zweifel über den kollektiven Prozess und die Herausforderungen, welchen sie während der engen Zusammenarbeit mit den Tänzer:innen bei der Erarbeitung von «Holes» begegnet ist. Getrieben von einem intrinsischen Interesse, ganzheitliche Formen zu entwickeln, mit Bewegungsphilosophien zu experimentieren und disziplinübergreifende Konzepte und Techniken zu erforschen, gibt sie Einblicke, wie durch intensive körperliche Praktiken und die Integration einer einzigartigen Klanglandschaft Zustände der Transformation provoziert werden können. Dabei wird deutlich, dass die Entwicklung dieses Stücks weit über eine blosse choreografische Übung hinausgeht – es ist eine tiefgehende Erforschung des Körpers und seiner fluiden Rolle als durchlässiges, sich ständig wandelndes System.

Was hat euch zu der Idee inspiriert, den Körper als «löchriges Verwertungssystem» darzustellen? 

Jamuna: Ich glaube, wir mystifizieren den Körper sehr oft und wir lieben das. Wenn wir diesen Körper jedoch als rohe Hülle, als Gefäss anschauen, mit all seinen Löchern und seiner Durchlässigkeit, wird dieses Rohe plötzlich sanft. «Holes» ist auch eine Art Hommage an den Körper als Kompost. Wir teilen das Innen durch unsere Löcher nach aussen und umgekehrt. Wenn man von diesem Verständnis als Grundgedanken ausgeht, begegnen wir dem Jetzt eher bewusst. Alle Informationen kommen und gehen durch unsere Löcher eben und wir verwerten. Der Unterschied ist, ob wir das spüren oder nicht und vor allem, wie wir es spüren wollen. 

Und wie habt ihr das Konzept von «Holes» und deren Transformation in die Choreografie integriert? 

Die Performer:innen nutzen unterschiedliche Praktiken innerhalb einer Partitur, einem sogenannten Score. Die Praktiken an sich sind eine Art poröses System. Sie können von einem ins andere wechseln und harmonieren oder disharmonieren mit der Klanglandschaft und den anderen im Raum. Es ist ein Wechselspiel von praktischen repetitiven Bewegungen, die Fantasien triggern, und Fantasien, die Aktion hervorrufen. Das Graben, das Bohren hilft dabei, tiefer zu kommen, stecken zu bleiben oder etwas Neues zu finden. Es geht auch viel um das kollektive Arbeiten, sich und andere vorantreiben, ohne dass wir wissen, wo wir schlussendlich landen. 

Wie werden Zustände der Transformation in eurem Stück von den Tänzer:innen provoziert? 

Ein starker Aspekt sind heftige, sich oft wiederholende Bewegungen, die teils ans Limit gepusht werden und eine Art Trance auslösen. Es ist ein energetischer Akt. 

Welche Herausforderungen sind euch bei der Entwicklung des choreografischen Materials und der Klanglandschaft begegnet? 

Eine grosse Herausforderung für die Choreografie und die Tänzer:innen ist tatsächlich die Klanglandschaft. Sie ist wie eine Gebärmutter mit ihrer eigenen Logik. Aber oft scheitert man, wenn man einen Anker darin finden will. Das macht es interessant und auch etwas beängstigend. Es ist kein Stück über Tanz, sondern ein Stück, das Momente der Praxis überträgt, Orte übersetzt, Emotionen provoziert, Materialien und Gespräche verdaut. Bemerkenswert ist, dass die Komposition sich sowohl an choreografische Veränderungen als auch in umgekehrter Richtung anpasst, indem sie deutliche Veränderungen in der Musik integriert, die mit der Bewegung zusammenhängen. Das ist die Herausforderung in unserer Zusammenarbeit. Der Dialog zwischen diesen beiden Welten. Die Tänzer:innen müssen ihre Entscheidungen im jeweiligen Moment anpassen, weil sie mit improvisiertem Material arbeiten, das sich überlagert. 

Es geht also darum, echte Entscheidungen zu treffen, während man sich voll und ganz auf die Praktiken einlässt – was aber nicht immer einfach ist, wenn man einen Überblick darüber haben will, wohin die Gruppe bereit ist zu gehen. Es kommt auch stets anders als geplant. Es stellte sich auch die Frage der Hierarchie, wobei die Musik manchmal eine begleitende Rolle spielt. Aber hier mussten wir eine gemeinsame Sprache finden. Der Raum wird von der Musik nicht verkleidet, sondern sie verkörpert ihn. Und das ist es, was uns interessiert, zu sehen, wie sich diese Gruppe in dieser Verschiebung entwickelt und sich auch herausfordert, manchmal gegen die Stimmung der Klanglandschaft zu agieren.

Welche besonderen Elemente oder Szenen in «Holes» sind für dich persönlich am bedeutendsten? 

Während ein Teil der Choreografie eine heftige Art der Interaktion mit dem Körper und den Bewegungen beinhaltet, werden Sorgfalt oder sorgfältige bzw. achtsame Materialien und Aktionen zunehmend wichtiger. Dies gilt nicht nur für das Stück am Ende, sondern auch für die Probenumgebung, so dass wir den gesamten Prozess unter dem Gesichtspunkt der Sorgfalt und Achtsamkeit durchdenken. Zum Beispiel gemeinsamen Ritualen Raum zu geben, gemeinsam Texte zu lesen, das Schreiben unseres eigenen Manifests oder sich Zeit nehmen, um einander zu massieren oder individuelle Zeit zu respektieren. Ein Highlight ist sicherlich die «Rave Bath», ein 20-minütiger gemeinsamer Rave im Studio, um eine gewisse Atmosphäre zu generieren, in den Raum zu tauchen, in den Körper zu kommen und vor allem uns auf den Geist des Stücks einzulassen. Diese Aspekte wurden demnach so wichtig, um wiederum auch Rauheit im Umgang mit sich selbst und den anderen später zuzulassen.

Und welche künstlerischen Einflüsse und Referenzen haben die Entwicklung von «Holes» geprägt? 

Ich habe vieles von Isabel Lewis lernen können in der Zeit mit dem Stück «Scalable Skeletal Escalator», welches wir in der Kunsthalle Zürich und im Tanzhaus Zürich unter anderem mit The Field performten. Isabel ist für mich in ihrer Arbeitsweise und ihren künstlerischen Werken ein grosses Vorbild und Inspiration. Aber auch die Arbeit mit den Kollektiven The Field und Zookunft.Projekt hat starken Einfluss auf dieses erste, eigene abendfüllende Stück. Das Arbeiten im Kollektiv birgt viele Facetten, Fragen, Problematiken und Schönheiten und natürlich meine eigene Suche nach einer Aesthetik. Und natürlich die Zusammenarbeit mit Léa Jullien und ihren rohen und fantastischen Klangwelten. Was mich ganz im Besonderen zu «Holes» inspirierte und die Idee aufkommen liess, sind praktische Arbeiten wie zum Beispiel Holzsägen oder das Löchergraben. Ich hatte immer eine Art Transformation erlebt bei der Ausführung von diesen sehr simplen, aber auf Dauer anstrengenden Bewegungen, und ich liebe es, zu beobachten, wie mein Körper und Geist damit umgeht. 

Im Prozess von Holes arbeiteten wir ausserdem mit verschiedenen Texten oder Quoten aus Büchern wie «Raving» von Wark McKenzie, «The strength in our scars» von Bianca Sparacino, «Homebody» von Rupi Kaur, «Extremely Loud: Sound as a weapon» von Juliette Volcler, «Respire» von Marielle Macé, «Histoire naturelle du silence» von Jerome Sueur und liessen uns von der Arbeit von Pauline Oliveros inspireren.

«Holes»
Theater am Gleis, Winterthur
Freitag 28.06 und Samstag 29.06, 20 Uhr 

Choreografie: Jamuna Mirjam Zweifel in Zusammenarbeit mit den Tänzer:innen
Musik, Sounds: Léa Jullien (Tropical Vegas)
Tänzer:innen: Sophie Meyer, Ariana Qizmolli, Astro Scheidegger, Sandra Albrecht, Maureen Zollinger, Nina Pfüller
Dramaturgie: Charlotte Matthiessen
Grafikdesign: Jahn Koutrios
Lichtdesign: Pascal Pompe

27. Mai 2024

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