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Zwei: Wie ist es, ein Doppelleben zu führen?

Er ist homosexuell, doch für seine Familie ist er hetero. Wie fühlt es sich an, in zwei verschiedenen Realitäten zu leben? Ein Freund hat mit uns über sein Doppelleben gesprochen.

Von Vanessa Votta

Nicht immer kann man sich selbst sein. In verschiedenen Aspekten des Lebens muss man sich anpassen. Doch was, wenn man der eigenen Familie einen Teil seiner selbst verbergen muss? Es ist schwierig den Personen, die einem eigentlich so nahestehen, etwas zu verschweigen. Etwas, das einen eigentlich so glücklich macht: Liebe.

Ich kenne A.* nun schon einige Jahre. Wir haben uns immer sehr gut verstanden und haben einiges zusammen erlebt. Ich kenne ihn als offene Person, die vor Freund:innen nichts verbirgt. So war ich auch schon von Beginn an bei seinem Coming-out dabei und habe ihn dabei unterstützt. Er ist authentisch und macht das, was ihn glücklich macht. Umso schwieriger ist es, als Freundin zu sehen, dass er dieses Glück nicht mit seiner Familie teilen kann. Denn seine Familie weiss zwar, dass er homosexuell ist, verdrängt die Tatsache aber. Ich habe mich mit ihm unterhalten, um ein wenig mehr über seine Situation zu erfahren und wie er damit umgeht.

Inwiefern führst du ein Doppelleben?

A.: Ich bin 25 Jahre alt und seit sechs Monaten in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung. Durch meine kosovarischen Wurzeln und meine muslimische Familie kann ich diese zwei verschiedenen Welten, in denen ich lebe, nicht miteinander vereinen. Das ist nicht meine erste gleichgeschlechtliche Beziehung und dementsprechend auch nicht die erste, die ich meiner Familie verschwiegen habe.

Ich bin zwar auch bei meiner Familie mich selbst, aber da gibt diesen einen Teil von mir, den ich niemandem in meiner Familie zeigen kann, worüber ich mit niemanden in der Familie reden darf, und den ich verleugnen muss, weil sie das andere Leben, das ich führe, nicht verstehen oder sogar verabscheuen.

Andererseits versteht auch mein Freund meine Familie und das Leben, das ich dort führe nicht. In meiner Familie herrschen andere Regeln, Prinzipien und Weltvorstellungen, die nicht mit seinen übereinstimmen. Das macht es schwierig für mich, denn ich möchte von allen verstanden werden.

Wie hat deine Familie reagiert, als sie herausgefunden haben, dass du einen Freund hast?

Als meine Familie vor etwa vier Jahren herausgefunden hat, dass ich einen Freund habe, ist für sie eine Welt zusammengebrochen. Seither hat sich in der Beziehung zwischen mir und meiner meiner Familie vieles verändert. Da sie meine Sexualität nicht akzeptieren können oder wollen, sei es wegen ihrem Glauben oder ihrer Weltvorstellung, erwartet meine Familie auch von mir, dass ich diesen Teil von mir tief in mir ertränke.

Natürlich habe ich meine Sexualität schon lange bevor meine Familie herausgefunden hat, dass ich homosexuell bin, versucht vor ihnen zu verdrängen. Doch mit der Zeit wurde mir immer klarer, dass das nicht nur irgend ein Teil von mir ist, den ich einfach ausradieren kann und dass ich diesen grossen Teil meines Lebens in meiner Familie nie so ausleben kann, wie ich es mir wünsche. So entstanden für mich die zwei Welten in denen ich lebe und die zwei damit verbundenen Versionen von mir.

Wie kannst du zwei Versionen von dir glaubwürdig ausleben?

Ich habe gelernt, oder zumindest probiert, diese zwei Welten und die damit verbundenen Versionen von mir strickt zu trennen. Es ist nicht etwas, das ich mir genau überlege, sondern etwas, das automatisch passiert. Sobald ich bei meiner Familie bin, kippt in meinem Unterbewusstsein automatisch ein Schalter um.

Wie fühlt sich das an, die Version von dir vorzuspielen, die dir nicht entspricht?

Es ist nicht so, dass ich eine Version «vorspiele», die mir nicht entspricht. Vielmehr verstecke ich einen Teil meiner selbst, wenn ich bei meiner Familie bin. Abgesehen von diesem Teil meines Lebens, bin ich immer noch ich selbst oder probiere es zumindest zu sein.

Wie wirst du dich je von den zwei Versionen lösen können? Möchtest du das überhaupt? 

Ich glaube diese zwei Welten komplett zusammen zu verbinden ist nicht möglich. Viel mehr musste ich mich für eine Version, für eine Welt entscheiden, was ich nach vielen Jahren endlich gemacht habe. Ich versuche mich Stück für Stück von meiner Familie zu lösen und meinen eigenen Weg zu gehen.

Ich weiss, wie glücklich du sein könntest, verstehe aber auch, dass deine Familie ein Teil deines Glücks ist. Wieso siehst du dich trotzdem als Familienmensch, auch wenn du dort nicht ganz du selbst sein kannst?

Als ich noch jünger war, hat mir meine Familie schon sehr viel bedeutet. Gerade in unserer Kultur steht die Familie immer an erster Stelle und mit dieser Vorstellung wollte auch ich unbedingt eine eigene Familie gründen. Was mir allerdings damals noch nicht ganz bewusst war ist, dass Familie nicht unbedingt blutsverwandt sein muss. Ich habe gelernt, dass ich, obwohl ich noch nicht verheiratet bin und keine Kinder habe, nach den Vorstellungen und Beschreibungen einer Familie, schon lange eine Familie habe.

Ich habe erkannt, dass meine Freund:innen genauso eine gute, wenn nicht eine bessere Familie für mich sein können, wie die Personen, mit denen ich blutsverwandt bin.

Erzähl mir von der Idealvorstellung deines Lebens.

Meine Idealvorstellung ist immer noch, verheiratet zu sein und Kinder zu haben. Aber statt einer Frau steht halt ein Mann an meiner Seite und statt Verwandte habe ich tolle Freunde, die hinter mit stehen und mich so nehmen, wie ich bin. Ich möchte eine Familie gründen, die Inklusivität und Selbstbestimmung feiert.

*Name ist der Redaktion bekannt

10. Oktober 2022

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