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Zeit heilt überhaupt gar nichts

Der Zeit wird nachgesagt, dass sie alle Wunden heilt, ähnlich wie Bepanthen. Doch mit den Jahren habe ich gelernt, dass weder die Zeit noch Bepanthen meiner Selbstreflexion das Wasser reichen kann.

Von Leila Alder

Die Zeit heilt alle Wunden. Soll heissen, dass schmerzhafte Gefühle oder Erinnerungen an negativ Erlebtes mit wachsendem zeitlichem Abstand in der Regel nachlassen. Also erstmal Däumchen drehen, Tee trinken und abwarten, bis die Welt wieder in Ordnung ist? So einfach ist es eben doch nicht. Die voranschreitende Zeit macht, wenn nicht sinnvoll genutzt, nämlich gar nichts. Vielleicht vergessen wir Details, werden richtig gut im Verdrängen oder im Zudröhnen. Alles jedoch weit entfernt von einer Heilung. Sich die Wunde genauer anzuschauen, auch wenns furchtbar ekelhaft ist und vielleicht noch mehr schmerzt, lohnt sich. 

Wenn die Diagnose steht, können wir mit der Heilung beginnen und uns mit dem Schmerz auseinandersetzen. Sich mit sich selbst zu befassen ist nicht angenehm aber notwendig, um wachsen und richtig verarbeiten zu können. Seit fast zehn Jahren gehe ich regelmässig zu einer Therapeutin, um genau das zu tun und trotzdem ist mir vor einiger Zeit eine Wunde aufgerissen, die ich eben einfach der Zeit überlassen hatte.

Durch eine unverhoffte Begegnung fand ich mich plötzlich in einem Wirrwarr von Emotionen, Trauer und offenen Fragen wieder. Da waren unausgesprochene Worten, die ausgesprochen werden wollten und unterdrückte Gefühlen, die gefühlt werden wollten. Ich heulte zwei Wochen lang, tat das, was ich einige Jahre zuvor hätte machen sollen, statt mich abzulenken. Ich begann hinzuschauen. Wo tut es weh? Warum tut es weh? Ich reiste nochmals zurück, kämpfte gegen die Zeit, gegen die Gedächtnislücken. Zur Hilfe las ich meine alten Tagebücher, versuchte mich zu erinnern und zu spüren, was damals gewesen war.

Optimal war der Zeitpunkt nicht. Meine klaffende Wunde brachte Dinge und Menschen durcheinander – am meisten mich selbst. War ich doch nicht so reflektiert, wie ich bis anhin dachte? Spielen mir meine Hormone einen Streich? Hallo, wer, wie und wo bin ich überhaupt?

Also führte ich Gespräche, die mich mehr Mut gekostet haben als mein erster Sprung vom Dreimeter –und der hat mich sehr viel Mut gekostet, trust me. Ich ging das Risiko ein, dass Aktuelles kaputt geht, dass mein Leben einen one eighty macht. Das tat es auch. Neue Wunden entstanden. Doch ich habe gelernt; dieses Mal überlasse ich sie nicht der Zeit, sondern nehme mir die Zeit. Heilen können wir uns nur selbst. Dafür brauchen wir sie zwar, die Zeit, aber vor allem Stärke, um hinzuschauen, Ehrlichkeit, um zu erkennen und eine verdammt gute Therapeutin zur Unterstützung.

19. Januar 2023

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