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Wie fluid kann ein Anblick sein?

Letzten September hatte ich den impulsiven Wunsch nach einer drastischen Veränderung. Spontan beschloss ich, mir auf meinem Balkon einen Kurzhaarschnitt zu rasieren. Damals war mir nicht klar, wie sehr sich meine Selbst-, aber auch die Fremdwahrnehmung verändern würde.

Von Melanie Amstutz

Aufgewachsen mit zwei Brüdern, war ich es gewohnt, auf Bäume zu klettern und Fussball zu spielen. Mit meinen langen Haaren war ich stets die kleine Schwester, die in ihrer eigenen Version von «Die Wilden Kerle» mitspielte. Hätte ich damals kurze Haare gehabt, hätte ich mich wahrscheinlich genauso gefühlt. Doch hätte mich die Gesellschaft dann als kleinen Bruder wahrgenommen? Heute, als junge Frau mit Kurzhaarfrisur, stelle ich mir die Frage: Bin ich «Frau genug»? Und was bedeutet es, «Frau genug» zu sein?

In den letzten Monaten gingen mir zahlreiche Fragen und Gedanken durch den Kopf.

«Muss ich jetzt Make-up tragen, wenn ich so kurze Haare habe?», fragte ich mich und durchstöberte meinen Kleiderschrank. «Kann ich diesen übergrossen Pullover noch tragen, oder sehe ich damit zu maskulin aus? Was bedeutet es für mich, feminin auszusehen? Sind es die Haare, die darüber entscheiden?» Abgesehen davon, dass gesellschaftliche Rollenbilder ständig nach weiblich und männlich im binärem Geschlechtersystem unterschieden werden, fragte ich mich: Mache ich der Gesellschaft einen Strich durch die Rechnung, indem ich mich weigere, die vorgegebene Garderobe der konventionellen Frauenabteilung zu tragen?

Aufgewachsen mit dem Bild stereotyper Frauenfrisuren, war der Gedanke daran, mir die Haare kurz zu schneiden, mutig. Ganz zu schweigen davon, mir tatsächlich den Kopf zu rasieren. Lange Zeit assoziierte ich dies nur mit der vermeintlichen Verrücktheit von Britney Spears. Für mich waren lange Haare eine «sichere Zone». Solange ich lange Haare trug, konnte ich anziehen, was ich wollte, und fühlte mich trotzdem als Frau.

Habe ich jetzt eine andere Identität, wenn ich meine langen Haare nicht mehr trage?

Identität ist ständig im Wandel. Mit der Identität stellt sich auch die Frage der sexuellen Orientierung: «Stehe ich jetzt auf FLINTA* Personen, oder werde ich nur so wahrgenommen, weil ich jetzt so aussehe?» Die zentrale Frage, die sich für mich daraus ergibt, ist: Was nützen uns Kategorien, und warum ist es für Menschen so schwierig, ausserhalb dieses binären Geschlechtersystems zu denken?

Konzept / Fotografie / Edit: Melanie Amstutz, Riccardo Troia
Models: Melanie Amstutz, Ethel Rossetti, Mathis Salomé Gröber, Jascha Harke
Kleidung: Mathis Salomé Gröber
Schmuck: laflordelsol
Makeup: Annina Weiss 

26. Juni 2024

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