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Wenn die Arbeit nicht mehr ruft

Als Costa mit 47 Jahren erwerblos wird, begleitet ihn ein Arbeitsintegrationsbetrieb beim Wiedereinstieg ins Berufsleben. Bald wird die Übergangslösung zum Dauerzustand, die Aussichten auf eine reguläre Arbeit mit jedem Lebensjahr schlechter. Nach elf Jahren weckt eine neue Festanstellung Hoffnung.

Von akutmag

Text von Gastautorin Susanna Bosch

Es ist ein Montagvormittag kurz vor 11 Uhr und die Oktobersonne wärmt die Terrasse der Schipfe 16. Gut zehn Tische hat Costa M. heute gedeckt und mit kleinen Reserviert-Schildern aus Edelstahl versehen. In einer Stunde werden die ersten Gäste eintrudeln, um ihr Mittagessen im traditionsreichen Handwerksquartier am linken Limmatufer zu geniessen. Wo einst die ärmere Stadtbevölkerung lebte, strahlen die denkmalgeschützten und renovierten Häuser heute Wohlstand aus. Meist verkehren gut situierte Städter:innen und Feriengäste in der Schipfe, in deren Gassen es von teuren Geschäften und Werkstätten wimmelt. Die wenigen Kinder sind sorgfältig angezogen und ihre Holzlaufräder, Wollmützen und Kinderwägen mit Lammfellbezug passen zu den Quartierläden. 

In der gleichen Ecke der Stadt ist mit dem Restaurant Schipfe 16 seit vielen Jahren ein soziales Projekt angesiedelt. Anders als die Wohnhäuser befindet sich das zweistöckige Gebäude direkt am Wasser und war wohl schon immer gewerblich genutzter Raum. Die gelbe Fassade mit den marineblauen Fensterläden wirkt gepflegt und lässt auf ein eher teures, traditionelles Gasthaus schliessen. Neben der Türe ist ein Schild angebracht: «Das Restaurant Schipfe 16 ist ein Arbeitsintegrationsangebot der Sozialen Einrichtungen und Betriebe der Stadt Zürich.» In der Schipfe werden erwerblose Sozialhilfebeziehende, stellenlose Jugendliche und Menschen mit Behinderung beschäftigt und je nach Bedürfnis bei der Wiedereingliederung ins Berufsleben unterstützt. 

Hier arbeitet Costa seit elf Jahren. Heute sitzt er zum letzten Mal am Personaltisch und isst mit seinen Arbeitskolleg:innen gemeinsam Lamm und Reis, bevor der grosse Mittagsrummel losgeht. Etwa sieben der insgesamt 28 Teilnehmer:innen sind heute hier. Mit dabei auch zwei Arbeitsagog:innen: Professionelle Gastroleute, welche die Teilnehmer:innen der Integrationsprogramme bei ihrer Arbeit begleiten. Am Mittagstisch ist nicht zu unterscheiden, wer in welchem Verhältnis im Betrieb angestellt ist. Die dunkelblauen Polohemden und schwarzen Knopfblusen mit Stehkragen verraten lediglich, ob eine Person in der Küche oder im Service arbeitet. Costa gehört zum Team Polohemd. Mit Goldschmuck am Arm und Marlboro Rot in der Hosentasche – damit sie nicht zerdrückt werden stets in einer Plastikzigarettenbox, bedruckt mit Jass-Symbolen – scherzt er abwechselnd auf Deutsch und Italienisch mit seinen Arbeitskolleg:innen. Als jemand fragt, ob das Wetter bis zum Ende der Woche schön bleibe, wird Costa ernst. «Ich weiss nicht, wie das Wetter Ende Woche ist. Weisst du, ich gehe am Donnerstag.»
Nach elf Jahren in der Schipfe 16 beginnt Costa im Restaurant R. im Kreis 6 zu arbeiten: erster Arbeitsmarkt, grosser Betrieb, erstklassiger Service. Alles Dinge, in denen Costa schon viel Erfahrung hat. Erwerbslos wurde er Mitte 40, «ein Alter, in dem du in dieser Branche heutzutage einfach weg vom Fenster bist.»

Heute soll es noch einmal stressig werden: Zwei Personen sind nicht zur Arbeit erschienen und Costa wird sich alleine um den Service im Aussenbereich kümmern müssen. Ein ungewöhnliches Bild für die Schipfe, wo im Vergleich zu regulären Betrieben eher viele Personen für eine Schicht eingeteilt werden. Costa ist zufrieden: «Ich arbeite gerne selbständig. Das bin ich mir von früheren Stellen gewohnt.» Während er nach draussen eilt, eine Bestellung nach der anderen aufnimmt, geht es im Speisesaal und in der Küche hektisch zu und her. Die beiden Agog:innen versuchen alles zusammenzuhalten und arbeiten mit, wo es Hilfe braucht. In der Küche, an der Bar und auch bei Costa auf der Terrasse. Die Schipfe ist zwar kein gewinnorientierter Betrieb, aber es müssen trotzdem alle Gäste bedient werden. Gleichzeitig dürfen Fehler passieren und jede Person soll in ihrem eigenen Tempo arbeiten können. Für wen der Mittagservice zu viel Druck bedeutet, lassen sich auch kleinere Aufgaben finden, die zeitlich weniger drängen: Servietten falten, Gläser trocknen, Karotten schälen. 

Die Gründe für die Teilnahme an einem der Arbeitsintegrationsprogramme sind sehr divers. Die Lage auf dem Schweizer Arbeitsmarkt hat sich in den letzten 20 Jahren zwar verbessert, jedoch hauptsächlich in Berufen mit hohen Bildungsanforderungen. Die Beschäftigungschancen für Niedrigqualifizierte, sprich im Bereich der Industrie, dem Gewerbe oder dem Bau, sind hingegen deutlich schlechter geworden. Gemäss den Erhebungen des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) lag die Arbeitslosenquote im Jahr 2022 bei 2%. Während in den Berufshauptgruppen der Führungskräfte, der Intellektuellen und wissenschaftlichen Berufe durchschnittlich weniger als 1,5% Arbeitslose registriert waren, verfügte die Gruppe der Hilfsarbeitskräfte über eine Arbeitslosenquote von rund 6,3%. Gerade Sozialhilfeempfänger:innen werden aufgrund gesundheitlicher Beschwerden oder fehlender beruflicher Qualifizierung häufig vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. 

In der Schipfe werden die Teilnehmer:innen je nach Motivation und Fachkenntnissen in verschiedene Zielgruppen eingeteilt. Damit soll ein Wiedereinstieg in den regulären Arbeitsmarkt realistisch eingeschätzt werden. Laut David Moret, dem Teamleiter des Betriebs, gewinnt die soziale Integration immer mehr Wichtigkeit. Lediglich zwei Personen werden momentan im Qualifikationsprogram intensiv in der Stellensuche gefördert. Ansonsten arbeiten viele unbefristet im Teillohnmodell, in dem es hauptsächlich um das Schaffen von Arbeitsstrukturen und einem sozialen Umfeld gehe. So viele Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen, schafft grosse Herausforderungen: «Wir haben zum Beispiel auch geschützte Dauerarbeitsplätze für IV-Rentner:innen. Das unterstützte ich sehr. Aber da ist einer verträumt und macht das schönste Dessert ever, bis die Physalis perfekt sitzt, während jemand anders 20 Bestellungen vorzubereiten hat. Beide machen es total richtig. Aber das zusammenzubringen ist schwierig. Auch für die Agogen.» 

David war selber sieben Jahre lang als Agoge in der Schipfe angestellt, davor hat er für ein Restaurant im ersten Arbeitsmarkt gearbeitet. «Irgendwann hatte ich die Gastrowelt, in der es immer nur um den Umsatz ging, einfach satt.» Über eine Anzeige erfährt er von einem Job, bei dem es «um Gastro und die Berücksichtigung von Menschen» gehe. Gelernte Gastroleute würden dort Menschen mit erschwertem Zugang zur Arbeitswelt bei der Arbeit anleiteten und unterstützen, «dieser soziale Aspekt hat mich sehr angesprochen.»
Von da an begleitet er die Teilnhemer:innen der Schipfe in allem, was die Arbeit belangt. Dabei begegnet er vielen verschiedenen Geschichten und Anliegen: «Manche haben psychische oder körperliche Leiden, andere trafen frühe berufliche Fehlentscheidungen. Dann gibt es auch Leute, die aufgrund ihrer Herkunft oder ihrem Alter Schwierigkeiten haben, einen Job finden.» Anliegen wie die Wohnungssuche, gesundheitliche Termine oder Mahnungen beträfen die Agog:innen zwar auf dem Papier nicht, aber in der Realität schon. Durch die gemeinsame Arbeit entstehe eine enge, vertrauensvolle Beziehung, in der es oft schwierig sei, Distanz zu halten. Nicht zu helfen, wenn es bei vielem doch so schnell gehen müsse, sei dennoch meist keine Option. Für David sind seine Arbeit und die verschiedenen Lebensrealitäten, die sie mit sich bringt, ein Teil der Welt, den wir halt einfach nicht so gerne sichtbar machen. Oft seien die Schicksale, die in der Schweiz zum Arbeitsverlust führen, aber einfach so normal: «Krankheit, Todesfall in der Familie, Gewalterfahrung. Es kann jeden treffen – da bin ich überzeugt.»

Costa trifft es früh. Das erste Mal ist er mit 21 aufs Arbeitsamt stempeln gegangen. Damals hatte er bereits einige Jahre als gelernter Maurer bei der Gebrüder Polla AG auf dem Bau gearbeitet, «in Akkordarbeit Beton geschalt und gemauert, einfach ein bisschen alles gemacht.» Es war das gleiche Geschäft, in dem auch schon sein Vater seit den 1960er Jahren als sogenannter Gastarbeiter tätig war. Als Costa ein Jahr alt war, ist die Familie aus den Abruzzen (der Ort liegt heute in der eigenständigen Region Molise) nach Meilen am Zürichsee ausgewandert. Italien zählte nach dem Krieg über zwei Millionen Arbeitslose. Während sich der Norden des Landes industriell entwickelte, wurden die oftmals landwirtschaftlich geprägten Südregionen vom wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit ausgeschlossen. Noch in den sechziger Jahren kamen hunderttausende Italiener:innen in die Schweiz, die für ihr eigenes Wirtschaftswunder auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen war. Etwa 500 Franken verdiente ein italienischer Bauarbeiter jeden Monat. Costas Vater schafft es bis zum Polier, «er hat in der Schweiz ein gutes Leben gemacht.» Seine Mutter arbeitet als Reinigungskraft. Das Ziel: Eines Tages nach Molise zurückkehren und im Heimatdorf ein Haus bauen. 

Mit vier Jahren wird Costa nach Valbella in eine pädagogische Einrichtung für schwererziehbare Kinder geschickt. In den Bündner Bergen lernt er Skifahren, die Eltern kommen ihn mit seinen jüngeren Schwestern etwa alle zwei bis drei Monate besuchen. Davon hat er immer noch Bilder im Kopf. Es sind gute Erinnerungen, Heimweh habe er keines gehabt, «aber als ich ein Jahr später zurück nach Hause gekommen bin, habe ich kein Wort Italienisch mehr gesprochen.» Über das Gefühl zwischen zwei Sprachen und Heimaten zu stehen, spricht Costa noch immer, «ich bin Secondo – kein Schweizer, aber auch kein Italiener mehr.»

Als er 1980 selbst mit der Arbeit auf dem Bau beginnt, wird aus Costantino Costa. Der Name Tino, war unter den Kollegen schon besetzt und das hätte nur Lämpen gegeben. Costa möchte das Fähigkeitszeugnis zum Maurer unbedingt haben. Kurz nach Lehrantritt wird er in einem Streit verletzt, seither sind seine obere und auch untere Zahnreihe durch Prothesen ersetzt («ich bin in einen Schlagring gelaufen»). Trotz des Konflikts macht er mit der körperlichen Arbeit weiter, besteht die Lehrprüfung und erhält das Papier, «das dir niemand mehr wegnehmen kann.» «Ein paar Monate später habe ich Probleme mit dem Rücken bekommen.» Costa kann die Arbeit als Maurer gesundheitsbedingt nicht fortsetzen. 

«Was mache ich jetzt?», fragt sich Costa. «Wenn dir damals der Rücken wehgetan hat, dann hast du dir einfach alleine etwas Neues gesucht. Das Sozialamt ist noch weit weg gewesen, nicht so wie heute.» Wer wie Costa in den 1980er Jahren erwerbslos wurde und genügend Beiträge nachweisen konnte, erhielt zwar eine Arbeitslosenentschädigung – wenige Jahre zuvor war eine obligatorische Arbeitsversicherung eingeführt worden, die zur Entrichtung monatlicher Beiträge verpflichtete – mit der Suche nach Anschlusslösungen waren Erwerbslose damals jedoch noch weitgehend auf sich allein gestellt. Die Regionalen Arbeitsvermittlungsstellen (RAV) werden sich erst 1996 auf dem Schweizer Arbeitsmarkt etablieren und fachliche Beratung für stellensuchende Personen anbieten.
Costa muss sich entscheiden, «entweder bleibt es so, wie es ist oder ich fange von Null an.» Also entschliesst er sich von seinem damaligen Zuhause, der Couch eines Freundes, nach Genua zu reisen und dort als Buffet-Mitarbeiter auf einem Schiff anzuheuern: sechs Monate auf dem Meer – New York, San Francisco und dann wieder zurück nach Italien. «Als ich zurückkam habe ich mir gesagt, jetzt fange ich im Gastgewerbe an.»

Zuerst macht er wieder ein bisschen alles: Buffet, Runner, Portier. Während die Eltern zurück nach Italien ziehen, arbeitet sich Costa in den Hierarchien der Zürcher Restaurants, Pizzerien und Hotels langsam hoch, bis er nach sieben verschiedenen Betrieben an der Langstrasse landet. In der Longstreet Bar bleibt er länger, wird schliesslich stellvertretender Geschäftsführer. Mit seinen gut 40 Jahren steht er mitten im Leben, ist bestens vernetzt und kennt sich durch die langjährige Erfahrung auf seinem Arbeitsgebiet gut aus. Es scheint der richtige Moment zu sein, um den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. 

Unweit des Longstreets eröffnet Costa sein eigenes Lokal, eine Sandwichbar. Oft steht er morgens um fünf Uhr im Geschäft und verkauft Brote bis spät in den Abend hinein. Damals habe man ihn gekannt, «die Leute sagten, ich gehe zu Costa essen.» Als er einen Kebab-Laden übernehmen kann, verschlägt es Costa wieder an die Langstrasse, «das war mein letzter Laden.» Das jetzige Lokal ist grösser und soll mehr Geld einbringen als das bisherige Take-away Konzept. «Einen Sommer habe ich überstanden, dann ist es schwierig geworden.» Mit dem Jahreszeitenwechsel nimmt die Laufkundschaft ab. «Ich habe selbst gar nichts mehr verdient und von irgendetwas musst du ja auch noch leben.» Sechs Monate nach der Eröffnung meldet er sein Unternehmen Konkurs.

Damit ist Costa nicht allein. Aufgrund der geringen Einstiegshürden gibt es in der Schweiz jährlich über 1000 Neugründungen gastronomischer Betriebe. Die Wahrscheinlichkeit für eine Firmenpleite liegt im Gastgewerbe jedoch mehr als doppelt so hoch als der Durchschnitt anderer Branchen. Nur jeder zweite gastgewerbliche Betrieb überlebt in der Schweiz länger als fünf Jahre. 

Costa ist 45 Jahre alt, als er sich wieder als Servicekraft zu bewerben beginnt. Die Pensionskasse steckt im ehemals eigenen Geschäft, für das er sich letztlich verschuldet hat. Für ein gutes Jahr kann er zurück ins Longstreet. Eine führende Position hat er dort jedoch nicht mehr inne. «Dann gab es einen Chefwechsel und sie haben mir gekündigt. Nur noch junge Leute eingestellt.» Zum zweiten Mal in seinem Leben meldet sich Costa arbeitslos. Diesmal kann er die Hilfe des RAVs in Anspruch nehmen, das Stellensuchende bei ihrem Wiedereinstieg ins Berufsleben begleitet. Noch im selben Jahr wird ihm ein Platz in der Schipfe vermittelt. Durch das Integrationsprogramm soll der Anschluss an die Arbeitswelt weiterbestehen, die Stellensuche gleichzeitig fortgeführt werden.
Costa möchte möglichst schnell wieder zurück in den regulären Arbeitsmarkt. «Von Anfang an bin ich jeden Tag ins Internet gegangen und habe mich beworben.» Bald wird klar, dass sich der Wiedereinstieg als äusserst schwierig gestalten wird. Es erreichen ihn viele Absagen, darunter auch Schreiben ehemaliger Arbeitgeber:innen, teils grosse Gastronomieketten, die ihre langjährigen Mitarbeiter:innen nach und nach durch ein junges, studentisches Team ersetzen. «Sie nehmen dich einfach nicht, selbst wenn du einmal bei ihnen gearbeitet hast.» Diese Erfahrungen entrüsten Costa. Früher sei in den Betrieben gemischt worden, alte und junge Menschen hätten zusammengearbeitet. Zudem gäben viele Orte auch keine treffenden Absagen mehr, sondern schrieben einfach irgendwas. «Es gab schon Tage, da habe ich gedacht, was mache ich eigentlich? Ich habe eine winzige Chance, dass ich irgendwo reinkomme. Aber ich habe mir gesagt, ich muss hier weg. Bis 60 werde ich mich bewerben. Das ist mein Ziel.»

Wer in der Schipfe im Qualifikationsprogramm teilnimmt, also keine Invalidenrente bezieht, wird nach zwei Jahren ausgesteuert. Das bedeutet, dass der Anspruch auf eine Arbeitslosenentschädigung endet, bevor der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt erfolgen konnte. Bei Personen mit Schulden wird die Differenz zwischen der Arbeitslosenentschädigung und dem Existenzminimum direkt ans Betreibungsamt überwiesen. Was bleibt, ist der Lohn, der vom Sozialamt ausgezahlt und ans Existenzminium angepasst wird. Bei Costa sind das 12 Franken die Stunde. «Das reicht zum Überleben, zum Leben reicht es nicht. Du kommst hierher, damit du einfach irgendetwas hast, einen Job hast.» Um einen kleinen Zuschuss zu verdienen, geht er ausserhalb der Arbeitszeiten bei verschiedenen Betrieben für befristete Hilfseinsätze im Weinverkauf und Service aushelfen. 

Costa gehört zu den Teilnehmer:innen in der Schipfe, bei denen es nicht primär um die soziale Stabilisierung, sondern um eine möglichst zeitnahe berufliche Integration geht. Dennoch wartet er mehr als zehn Jahre auf seine Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt. Als Person steht er dabei für viele: Das Risiko, langzeitarbeitslos zu werden, ist in der Schweiz bei Älteren, bei Personen, die früher schon einmal arbeitslos waren und bei Nichtschweizer:innen erhöht. In der Schipfe sind grossenteils Männer beschäftigt. Laut SECO sind in der Schweiz Frauen aber generell häufiger von Erwerblosigkeit betroffen als Männer. Dies trifft insbesondere auf die Familiengründungsphase zu. Die ungleiche Verteilung von unbezahlter Arbeit führt zu tieferen Arbeitspensen, schlechterer Entlohnung und damit zu weniger Anspruch auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Erst in älteren Jahren verlieren deutlich mehr Männer als Frauen ihre Stelle.

Die Lage auf dem Arbeitsmarkt sollte diese Schwierigkeiten auf den ersten Blick eigentlich nicht begünstigt haben. Denn seit vielen Jahren sind im Gastgewerbe in fast allen Berufen mehr als 5% der Stellen unbesetzt. Dennoch ist die Arbeitslosenquote bei Gastrofachkräften im schweizweiten Vergleich überdurchschnittlich hoch. Studien zeigen, dass ein bedeutender Teil der erwerblos Gemeldeten das Arbeitsgebiet verlassen möchte. 

Auch David fällt auf, dass die Branche als Arbeitgeberin an Attraktivität verloren hat. Einen der gesellschaftlichen Hauptgründe sieht er darin, dass der Freizeit immer mehr Bedeutung beigemessen wird: Viele Menschen seien einfach nicht mehr dazu bereit, ständig auf Abruf zu sein und regelmässig in der Nacht und am Wochenende zu arbeiten. Dennoch erwarte die Gastronomie von ihren Angestellten höchste Flexibilität in den Einsatzzeiten, während die Entlohnung oft immer noch sehr schlecht sei. «Wenn die Europäer:innen immer mehr auf ihre Work-Live-Balance achten, muss man auch in der Gastro Anpassungen machen.» Letztlich habe die gehobene Gastronomie mit ihrem edlen Sterne-Service an Bedeutung verloren. Auch deshalb könnten in der Schweiz immer mehr Ungelernte und Junge, die weniger Lohnkosten verursachten, anstelle von erfahrenen Berufsleuten eingesetzt werden.  

Die schlechten Lohnverhältnisse würden laut David auch die Motivation der Teilnehmer:innen von Arbeitsintegrationsprogrammen hemmen. «Wieso soll ich weggehen, mir einen riesen Stress machen, wenn der Mindestlohn in der Gastro oder im Detailhandel nicht viel mehr ist als hier?» Hinzu komme oft die Angst, dass einem im regulären Arbeitsmarkt schon beim ersten Fehler gekündigt werde. Denn die Anforderungen seien in körperlicher, aber auch sozialer Hinsicht, trotz allem sehr gross. Die Exponiertheit des Service Personals schaffe zwar viele positive Momente und Selbstvertrauen, könne aber eben auch Verunsicherung auslösen.
Auch in der Schipfe sind die hohen Ansprüche der Gäste zu spüren, erzählt David. Viele Leute begegneten dem Betrieb mit Freude und grossem Interesse. Andere getrauten sich einfach mehr zu kritisieren und zu belehren als in regulären Restaurants. «Das verunsichert die Leute mega. Viele ziehen sich zurück und wollen nicht mehr an der Front sein.»

Costa möchte an der Front sein. Um von den Arbeitgeber:innen nachgefragte Kompetenzen spezifisch erfüllen zu können, tritt er eine zweite Lehre an: In der Schipfe lässt er sich zum Restaurationsfachmann / Sommelier ausbilden. Als er sich im vergangenen Herbst im Restaurant R. auf eine Service-Stelle mit Schwerpunkt Weinverkauf bewirbt, wird er zu einem Gespräch und Probearbeiten eingeladen. Der Tag verläuft gut – Costa verkauft eine Menge Wein. «Sie sind zufrieden gewesen mit mir.» Ausserdem zahlt das R. für die Branche einen überdurchschnittlich guten Lohn. Ob sie denn wüssten, wie alt er sei, hat Costa gefragt. Das Alter interessiere sie nicht, aber er solle sich gleich nach dem Wochenende für oder gegen einen Stellenantritt entscheiden. «Am Samstag habe ich lange darüber nachgedacht, dann musste ich mit David reden: ‚Soll ich annehmen‘ – ‚Ja.‘ – ‚Meinst du?‘ – ‚Ja, Costa, wenn einer das kann, dann du.‘ Dann ist es okay gewesen. Ich habe den Vertrag angenommen.»

Für sein Abschiedsfest backt Costa vier Laib Olivenbrot, die er mit Lachs belegt. Das erinnert ihn an seine Zeit in der Sandwichbar. «Die Leute haben das super gefunden. Ich würde es gerne wieder mehr machen. Sporadisch, nicht immer – vielleicht nach der Pensionierung dann.» Zuerst wird er mit 58 Jahren noch einmal neu im ersten Arbeitsmarkt ankommen. Das bedeutet Verantwortung aber auch Gebraucht-Werden. Anfragen für temporäre Hilfseinsätze musste er nun auch schon ablehnen. «Ich habe gesagt, ich komme gerne arbeiten, wenn ich Zeit habe. Aber diesen Donnerstag geht’s nicht, denn ich habe einen neuen Job.»

Wie geht es jetzt weiter? Bestimmt noch ein paar Jahre arbeiten, dann in Frühpensionierung gehen. «Ich habe eh keine Pensionskasse mehr. Alles rausgezogen als ich mich selbständig gemacht habe.» Bis dahin eröffnet der neue Stundenlohn kleine Freiheiten. Als erstes möchte Costa nach Molise fahren und dort das Grab seines Vaters besuchen. Als dieser im vergangenen Dezember im Sterben lag, waren beide Schwestern im Spital. Costa haben sie via Videocall hinzugeschaltet – es war ihm finanziell nicht möglich, persönlich anzureisen. «Das hat mir wehgetan. Aber er hat gewusst, dass ich da bin. Er hat das akzeptiert.» Nach Italien zurückkehren, so wie es die Eltern getan haben, möchte und kann Costa nicht: Wer als Nicht-Schweizer:in ohne Pensionskasse von Ergänzungsleistungen lebt, darf sich jährlich nur drei Monate im Ausland aufhalten. Ansonsten geht die C-Bewilligung verloren. Und den Schweizerpass kann Costa als Schuldner nicht mehr beantragen. «Als ich volljährig wurde, hätte ich ihn machen können, habe es aber verpasst. Damals habe ich auch noch einen Job gehabt, was ich heute nicht mehr habe… Also jetzt habe ich ja wieder einen!»

Mit der neuen Arbeit endet vor allem das Gefühl ausgebremst zu werden. Die vielen erfolglosen Bewerbungen haben eine Menge Energie gekostet. Costa hofft, in seiner eigenen Arbeitswelt, die er sich in einer Notsituation vor vielen Jahren ausgesucht und erschlossen hat, wieder Fuss fassen zu können. David sei ein guter Typ, die Leute in der Schipfe Freunde geworden. «Aber zurück komme ich nicht mehr, selbst wenn ich arbeitslos werden würde. Mittlerweile habe ich ein Alter erreicht, in dem es sehr schwierig ist.» Es noch einmal versuchen, möchte Costa unbedingt. «Ich will arbeiten. Das Gastgewerbe ist mein Leben. Ich hätte es schon mit 18 machen sollen. Dann wäre es vielleicht auch anders rausgekommen.»

An einem Abend im Dezember, etwa zwei Monate nach seinem letzten Arbeitstag in der Schipfe, geht Costa im Schiffbau an einem Presse-Event als Kellner aushelfen. An den Einsatz ist er über eine App gelangt, auf der eine Firma temporäre Stellenangebote vermittelt.
Im Restaurant R. hat er sechs Wochen gearbeitet. «In der ersten Woche habe ich noch den kompletten Service gemacht. Dann durfte ich den Gästen nur noch die Jacken abnehmen, den Apéro und das Dessert servieren.» Nach der dritten Woche wird seine 80% Stelle in ein Arbeitsverhältnis auf Stundenlohnbasis umgewandelt. «Von da an konnte ich viel weniger arbeiten, als im Plan eingeteilt. Einmal, an einem Sonntag, war ich für zwei Stunden dort, um staubzusaugen und Gläser aufzudecken. Dann musste ich wieder gehen. Arbeit hätten sie schon gehabt, aber diese einfach an junge temporäre Aushilfen vergeben.» Als er kurz darauf an einer Grippe erkrankt, habe ihm das R. eine WhatsApp-Nachricht geschrieben, erzählt Costa: «Wir haben uns anders organisiert und werden uns im Januar wieder bei dir melden.»

Das war Ende November. Das Sozialamt bietet Costa finanzielle Unterstützung, empfiehlt erstmal Erholung und Ferien. «Ich habe keine Ferien gemacht. Bin direkt arbeiten gegangen.» Der Traum von einem regelmässigen Einkommen ist zwar vorerst geplatzt – unter dem ursprünglichen Vertrag wären im R. mit Trinkgeld monatlich 4000 Franken reingekommen – die Temporär Jobs reichen jedoch für den Moment. «Ich komme auf 2000 Franken pro Monat, das ist viel mehr als ich in der Schipfe verdient habe oder vom Sozialamt bekommen würde. Aber du musst halt jeden Tag dahinter sitzen, Jobs anklicken, dann müssen sie Ja sagen. Das ist aufwändig.» Eine App für Tagelöhner:innen? Die Ungewissheit, ob auf einen Tageseinsatz auch ein nächster folgen wird, ist ständig da. Der Konkurrenzdruck auch hier vorhanden: In einigen Vermittlungs-Apps können sich nur junge Menschen in Ausbildung registrieren. 

In der Neujahrswoche wartet Costa auf eine Nachricht vom R., wo in wenigen Tagen die Betriebsferien zu Ende gehen. «Wenn ich bis nächste Woche nichts höre, lege ich den Restaurant-Schlüssel in ein Couvert und sende ihn retour.» Der Frust ist in den vergangenen Wochen grösser geworden. Costa fragt sich, was er falsch gemacht hat, warum er trotz des Schweizer Lehrabschlusses nicht mit einer Festanstellung bis zur Pension rechnen kann. Er möchte endlich wieder einen normalen, geregelten Job haben: morgens anfangen, abends gehen und auf eine gewisse Anzahl Stunden kommen. «Eigentlich wollte ich im neuen Jahr nach Italien fahren… Jetzt muss ich die Situation so akzeptieren, wie sie ist.»

Diese Reportage von Susanna Bosch ist im Rahmen ihres Masterstudiums in Kulturpublizistik an der ZHdK entstanden.

17. April 2023

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