Obwohl ich das Gefühl mag, im Herbst beim Eindunkeln den Kinosaal betreten zu können und beim Verlassen der Vorstellung von der dunklen Nacht und ihrem beissenden, klaren Wind begrüsst zu werden, fehlt mir manchmal die Energie für den abendlichen Kinogang. Auf Mubi findet man neben einem vorgestellten Tagesfilm – diese bleiben mindestens einen Monat verfügbar – auch nach Themen oder Festivals kuratierte Filmkategorien. Die Auswahl an Filmen kann jedoch überwältigend wirken.
Hier meine vier Herbst-Picks, die ihr aktuell auf Mubi (CH) streamen könnt:
«Jill, Uncredited» von Anthony Ing (CA, 2022)
Der 18-minütige Kurzfilm von Anthony Ing beleuchtet das Lebenswerk der Schauspielerin Jill Goldston, die als Statistin in über hundert Filmen und TV-Shows zu sehen war, meist jedoch unbenannt blieb. Der Film montiert ihre unzähligen, oft flüchtigen Auftritte, um ihre unsichtbare Karriere in den Vordergrund zu rücken. Ings Werk reflektiert auf poetische Weise und nicht wertend das Thema Anerkennung und hebt die oft übersehene Rolle der Statist:innen hervor, die im Hintergrund die Filmwelt prägen. Nehmt euch die Zeit frei mit Jill, für Jill.
«Forty Shades of Blue» von Ira Sachs (US, 2005)
Americana-Feeling. Genauer: Die Südstaaten, Memphis. «Forty Shades of Blue» mit Rip Torn, Darren Burrows und Dina Korzun erzählt die Geschichte von Laura, einer jungen Russin, die in Memphis mit einer viel älteren Rock-n-Roll- und Blues-Legende, dem Produzenten Alan und einem gemeinsamen Kind zusammenlebt und ihrem persönlichen Erwachen, das sie im Zuge ihrer unglücklichen Affäre mit seinem entfremdeten Sohn erfahren darf.
Denn in Alans Schatten finden seine Trophäenpartnerin Laura (Dina Korzun) und sein entfremdeter Sohn Michael (Darren Burrows) unerwartete Gemeinsamkeiten, und die Affäre, auf die sie sich schliesslich einlassen, offenbart die Schwächen und Kompromisse aller drei, die sich damit abgefunden haben, eine Lüge zu leben.
Glitzerpaläste zerbersten: Die Illusionen des amerikanischen Traums müssen sich hinter die menschlichen Bedürfnisse nach Liebe, Loyalität, Zärtlich- und Ehrlichkeit einreihen. Nora kämpft mit Schuldgefühlen, denn sie ist dankbar für ein abgesichertes Leben im Land der Freiheit. Dennoch ist ihr der Preis dafür zu hoch.
Alan, der alternde Musikproduzent aus Memphis (der lose auf Sachs‘ eigenem Vater basiert), der in den 60er- und 70er-Jahren für die erfolgreiche Verschmelzung der Musik von Schwarzen und Weissen bekannt war, misslingt es, die Kluft zwischen ihm, seiner russischen Freundin und seinem erwachsenen Sohn zu überbrücken. Er sehnt sich nach einer Zeit, in der sein Handeln als revolutionär und mutig gewertet wurde, einer Persona, die Nora nie zu Gesicht bekommen hat und wird.
«Eine schwedische Liebesgeschichte» von Roy Andersson (SWE, 1979)
Passend zur Herbst-Tristeza und zur Breakup-Season: Ein Liebesmärchen im Spätsommer. Die Hauptprotagonist:innen sind minderjährig. Umso eindrücklicher, was der Film bei uns Erwachsenen auslösen kann. Ich entdecke Gefühle, Situationen und Einfachheit in der Onscreen-Liebe, die ich in meiner eigenen vergessen habe. Taktile Sensibilität. Roy Anderssons erster Spielfilm, den er kurz nach seinem Abschluss an der Filmhochschule drehte, ist ein Werk der stillen Beobachtung und des sanften Humors, das von den Filmen der tschechischen Neuen Welle von Milos Forman inspiriert ist und einen grossen Erfolg bei Kritik und Publikum genoss. Der Film porträtiert einen idyllischen schwedischen Sommer, in dem die erste Liebe zwischen Annika (Ann-Sofie Kylin) und Pär (Rolf Sohlman) im Kontrast zu den verworrenen Beziehungen, Enttäuschungen und dem Weltschmerz des Erwachsenenlebens um sie herum steht.
Der Film setzt auf Bilder statt auf Dialoge. Die Bildsprache ergänzt die Körpersprache und schafft so ein wundervoll unbeschwertes Tableau-Gebilde.
«Der Himmel über Berlin» von Wim Wenders (FR, 1987)
Ein Muss für melancholische Herbsttage. Ob man aktiv zuschaut oder einfach nur in der Behutsamkeit der Background Noise in einen Tagtraum abdriftet: Der Film bleibt eine Wucht. «Himmel über Berlin» von Wim Wenders erzählt die Geschichte zweier Engel, Damiel (Bruno Ganz) und Cassiel (Otto Sander), die über das geteilte Berlin wachen. Unsichtbar für die Menschen, hören sie deren Gedanken und sind stille Beobachter ihrer Einsamkeit und Sehnsüchte. Als Damiel sich in die Zirkuskünstlerin Marion (Solveig Dommartin) verliebt, wächst in ihm der Wunsch, das Leben als Mensch zu erfahren und die Welt direkt zu erleben.
Die Genre-Mischung erzählt von der Schönheit des menschlichen Daseins. Wenders fängt das stimmungsvolle Berlin in einer einzigartigen, superdynamischen Bildsprache ein. Zwischen Schwarzweiss und Farbe. Lauschen und Beobachten. Der Gaze ist übernatürlich.
Spätestens nach der Titel-Hommage von Pashanims gleichnamigen Debut-Mixtape darf dem Film im deutschsprachigen Raum Kultstatus zugeschrieben werden.
En Plus: Ab dem 31. Oktober ist «The Substance», das neue radikalkritische Body-Horror Meisterwerk von Carolie Fargeat mit Demi Moore in der Hauptrolle, auf Mubi streambar. Für alle, die dieses sehr empfehlenswerte visuelle Spektakel lieber in der Komfortzone der eigenen vier Wände und nicht auf dem einschüchternden «Big Screen» geniessen wollen.
Wer trotz der Winterschlaf-Vorbereitungen dennoch Energie und Zeit findet, ins Kino zu gehen: «Heimliche Stars: eine Ode an die Nebenfiguren» (Programm: Stefanie Diekmann und Fabienne Liptay) – meine Lieblings Kino-Reihe im Herbst 2024
Das Filmpodium Zürich beschäftigt sich noch bis zum 15. November mit kleinen Rollen, aber grossen Auftritten. Filme, die sich rund um die Themen Nebendarsteller:innen, Supporting- and Character-Actors, Scene Stealing und Komparserie bewegen, finden ihren Platz im Programm. Eine Auswahl an prägnanten Performances von eben Nicht-Hauptdarsteller:innen wird geboten. Von Hattie Mc Daniel in «Gone with the Wind», mit einer jahrhundertstarken Performance, die sie zu einer der bekanntesten Nebendarstellerinnen machte, und massgeblich zur kontextuellen Analyse damaliger rassistischer filmischer Rahmenverhältnisse beigetragen hat, über die dreiminütige und mehrheitlich unkommentierte Beifahrer-Erscheinung der Kultlegende Harry Dean Stanton in «Two Lane Blacktop» zu einem jungen Nicolas Cage (damals noch Coppola), der aufgrund seines damaligen Alters und den strikten Drehzeitregulierungen im Ensemblefilm «Fast Times at Ridgemont High» an der Seite seiner heutigen Co-Stars wie Sean Penn und Phoebe Cates eben nur 25 Sekunden Screentime bekam, finden sich diverse eindrückliche schauspielerische Leistungen in diesen Filmen.
27. Oktober 2024