Text von Gastautor Leonard Haverkamp
Jetzt stehen sie alle da und schauen in den Abgrund. Der Rücken dem Publikum zugewandt. Eben waren sie noch alle hineingesprungen. Nur um dann von rechts und links wieder auf die Bühne zu kommen. Und wieder: den Catwalk hinauf, hinten in den Abgrund hinein. Jetzt aber drehen sich die 30 Gesichter gleichzeitig über die Mauer aus Schultern und werfen ihre Blicke ins Publikum.
Dieser Abend im Pfauen verspricht schnell ein denkwürdiger zu werden. «jetzt, jetzt, jetzt» von Yunus Ersoy, Suna Gürler, Lucien Haug, Alina Immoos und Ensemble kommt dringlich daher, reiss mit und zeigt, was Theater sein kann.

Hat hier jemand Klimakrise gesagt? Nein. Aber da liegt doch was in der Luft. Vielleicht auch weil das Ensemble so aussieht, als könnte es grösstenteils noch zur Schule gehen (ausser freitags natürlich). Überhaupt wird wenig gesagt. Wenn, dann sprechen Gizem Baruk, Yanike Mica Becklas, Helene Bott, Onur Can, Timon Däster, Xhenisa Demiri, Moubarak Djibril, Amanda Lucia Dos Reis, Tamiris Dos Reis, Lee Fischer, Lara Fuchs, Fayrouz Gabriel, Samira Graf, Mira Guggenbühl, Jascha Harke, Flynn Jost, Mila Knapp, Willy Krähenbühl, Rosa-Lin Meessen, Vanessa Meyer, Elias Kim Müller, Sora Ndiaye, Alina Rehsteiner, Enno Rennenkampff, Dominik Schüepp , Lionel Schwägli, Anina Steiner, Minou Mafalda Taghavi, Valerie Tveiten und Dariia Yelahina in ihrer eigenen Sprache. Oft zählen sie auch nur – meistens runter.

Dann und wann treten sie geschlossen an das Publikum heran. Einer lässt die Beine von der Bühne baumeln, eine den Kopf mit Schopf nach unten. Alle schauen sie das Publikum genüsslich an. Den doch eher jungen Verfasser dieses Textes übergehen die Blicke konsequent. Zufall? Einen älteren Mann in der Reihe dahinter fragt eine Spielerin dafür: «Wie viel haben Sie für diesen Sitz bezahlt?» Der kontert: «ein ganzes Halbes». Sie wiederholt die Worte langsam: «ein ganzes Halbes» und schaut dabei nickend durch den Saal.
Aus solchen Spannungsmomenten werden dann flashmobartige Choreografien. Immer wieder tun sich einzelne Spieler:innen daraus hervor, und zeigen sich. Bis zum Ende entdeckt man neue Gesichter. Was wohl dazu beiträgt, dass die Faszination für die da oben ungebrochen ist. Man fühlt sich hingezogen zu ihrem Spiel, fühlt die zurückgehaltene Wut hinter den ausdrucksstarken Gesten. Möchte Teil dieser Bewegungen werden. Ihnen scheint das durchaus bewusst. Als die Spieler:innen im letzten Drittel die Bühne räumen, gestikuliert einer schüchtern in die freie Fläche: Na, traut euch! Achselzucken. Ja, doch. Ist frei! Seht ihr doch.

Plötzlich ist der Typ neben mir an meinem Ohr: «is it possible? – up?» Ich muss schmunzeln und sage so etwas wie: «That’s the question». Als er merkt, dass er bei mir nicht weiterkommt, wendet er sich an den Mann zu seiner Rechten. «is it possible – in Germany?», er zeigt auf die Bühne. Der andere meint achselzuckend: «it is up to you». Und dann steht der Typ auf, wendet sich noch einmal verzagt ans Publikum in seinem Rücken, als wolle er noch mal die Erlaubnis aller einholen. Und dann macht er es tatsächlich: Einen roten Cowboystiefel auf die zweite Reihe, den anderen auf die erste und schon steht er auf der Bühne. Zwei, drei grosse Schritte, wie es die anderen vorgemacht haben. In der Mitte bleibt er stehen, kniet nieder und senkt die Stirn auf den schwarzen Boden. Vielleicht liegt es auch an dem roten Anglerhut und der Strickjacke mit einem grossen Stern auf dem Rücken: aber das passt einfach zu gut auf diese Bühne! Erst als er sich umdreht, den Hut abnimmt und verbeugt, kommt ein Mann mit Headset aus dem Backstage und hackt ihn ein. Der Hingerissene legt fast dankbar die Hand auf den Arm, der ihn abführt. Alles nur Show?
Die jungen Menschen hat das nicht aus dem Konzept gebracht. Als gehöre es zum Stück, erhebt ein Spieler die grossen Hände und improvisiert ein stilles «What the fuck?!» in die Kamera, die jetzt die um die Bühne fläzenden Spieler:innen abgeht. Allen Krisen dieser Welt zum Trotz getanzt, haben damit scheinbar aber auch sie nicht gerechnet.
Ungebrochen ist dieser Abend der stille Schrei einer Generation, die – nennen Sie es Nihilismus, Dada, Sisyphos, oder verzückende Verzweiflung – mit allen Mitteln gegen diese Welt antrotzt, die man ihnen überlässt. Im letzten Akt klettern die 30 über das Publikum hinweg, von Armlehne zu Armlehne, bis in die letzte Reihe. Haben wir ein Glück, dass dort eine Generation sitzt, die die Welt retten wird. Und wer weiss, vielleicht treten ja doch noch ein paar in ihre Mitte.
Mehr Infos und Tickets für «jetzt, jetzt, jetzt» gibt’s hier.
09. Oktober 2023