Text von Gastautorin Stéphanie von Bertrab
Stundenlanges sich in die Augen starren, Deeptalk, Tanzen bis in die Morgenstunden und danach zusammen im Bett liegen, bis die Sonne aufgeht und einem irgendwann doch die Augen zufallen. Ein Rausch, wie ich ihn mir bis dahin nie hätte vorstellen können. Mitte zwanzig zu sein und Gefühle von Grenzenlosigkeit, Leichtigkeit, Abenteuerlust, Leidenschaft und Versprechen zu erleben – so hat sich Verliebtheit mit ihm angefühlt.
Er war der erste Mann, bei dem es nicht nur um reines Vergnügen ging, sondern um ein tiefes Verlangen nach seiner ganzen Person. Der erste Mann, bei dem ich Sehnsucht gespürt habe. Der erste Mann, den ich bedingungslos geliebt habe. Ich wollte alles von ihm. Im Nachhinein war das der Fehler. Ich bin immer weiter gefallen, auch als er schon lange wieder aufgestanden ist. Für einen kurzen Moment habe ich gedacht, dass er in mein Leben gekommen ist, um zu bleiben. Jetzt denke ich, dass er in mein Leben gekommen ist, um mir einen Spiegel vorzuhalten. Dass er mich nicht mehr will, lehrt mich, mich selbst wieder mehr zu wollen. Mir selber wieder Fragen zu stellen und mir selber die Welt offen zu halten. Seine Liebe hat mich verletzlich gemacht, aber seine Abwesenheit zeigt mir meine eigene Stärke.
Meine Mama will mir das Weinen verbieten. Es tut ihr zu sehr weh, mich so zu sehen. Gleichzeitig fragt mich mein Papa jede Woche, warum es mir denn immer noch nicht gut geht. Und dann gibt es da noch all die tollen Frauen in meinem Leben. Freundinnen. Neue Freundinnen. Freundinnen von Freundinnen. Sie hören mir alle aufmerksam zu. Einige schon zum x-ten Mal. Sie analysieren mit mir die Trennung. Warum er nicht mehr wollte, was in ihm vorgeht und wie es mir dabei geht. Ich mache das ganz toll, sagen sie mir. Ich könne stolz auf mich sein. Ich sei stark. Noch nie habe ich die Liebe zu und von anderen Frauen so fest gespürt und gebraucht. Sie schenken mir die Empathie und die Geduld, die er mir nicht mehr geben wollte – die ich dachte, von ihm zu brauchen. Doch ich habe meine Freundinnen. Und mich selbst. Und ich lerne gerade, dass das mehr als genug ist.
Nun sitze ich also im Club der gebrochenen Herzen. Ich glaube, dass es nicht nur seine oder meine Fehler waren, die mich hierher gebracht haben, sondern dass ich mir dieses gebrochene Herz fast schon selbst manifestiert habe. Ich hatte zuvor noch nie eins. Trotzdem war ich immer der Auffassung, dass jeder mal eins haben sollte, dass es zur «Human Experience» gehört. Und obwohl ich mir niemals hätte vorstellen können, wie es sich tatsächlich anfühlt – dieser nichtlineare Prozess von Scham, Wut, Kontrollverlust, Ungeduld, Hoffnungslosigkeit, Angst und Trauer; dieses anhaltende Gefühl von Unbehagen – weiss ich jetzt, dass es durchaus Gründe für ein gebrochenes Herz gibt. Meine Trauergefühle koexistieren mit meiner Dankbarkeit. An gewissen Tagen nehmen sie Überhand, doch die Dankbarkeit ist immer da. Dankbarkeit für die Möglichkeit, stärker zu werden; für das Gefühl tiefer Verbundenheit mit anderen Personen, die mit mir ihre Geschichten teilen und für mich da sind; für mehr Verständnis, Empathie und Geduld gegenüber jedem Menschen und mir selber; für die Hoffnung, in der nächsten Liebe etwas schlauer zu sein; für das Erwachen, dass ich mein Leben nur für mich selbst lebe. Schliesslich bleibt mir die Dankbarkeit für die erlebten Gefühle und Momente mit ihm, die ich für immer mit der bisher schönsten und schlimmsten Zeit meines Lebens verbinde.
26. Oktober 2024