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Was ist der Geruch deiner Kindheit?

Ich bekomme Spass an meinem neuen Spiel. Spass wie schon lange nicht mehr. Was ist der Geruch deiner Kindheit?

Von Lea Schlenker

Den meisten macht es nichts aus, eine persönliche Frage zu beantworten. Das schafft eine Vertrauensbasis und stärkt die Beziehung untereinander. Danach können wir uns jeweils zunicken, wenn wir uns auf dem Flur im Büro begegnen, als teilten wir ein Geheimnis, von dem die anderen hier nichts wissen. Was ist für dich der Geruch deiner Kindheit?

Der junge Mann, der für mich zu 97% aus Excel-Sheets besteht, sagt, sein Duft ist der, den er riecht, wenn er in den Wohnblock tritt, in dem er aufgewachsen ist. Es ist eine Mischung aus Putzessig, alten Schuhen und Butterkeksen, die zu lange offen herumliegen. Jedes Mal, wenn er seine Eltern besucht, dann hat er wieder den Geruch und seine Kindheit in der Nase. Eine olfaktorische Sensation. Meine etwas jüngere, aber dienstältere Kollegin denkt über die Landesgrenzen hinaus. Sie erzählt von ihrem Vater, der jeweils sechzehn Stunden am Stück mit ihnen in den Sommerferien nach Italien gefahren ist. Die Autofahrt hat er kommentarlos übernommen, aber nicht ohne dabei pausenlos zu rauchen. Zigarettenrauch und Ledersitze, das ist der Geruch ihrer Kindheit. Und dann noch die Tomatensugo, die ihre Mutter stundenlang eingekocht hat und das ganze Haus nach Mahlzeit hat riechen lassen.

Die Kollegin, die fast jeden Tag neben mir sitzt, erzählt von Regen und nassem Gras. Wie der heisse Zementboden riecht, wenn im Sommer der langersehnte Regen auf ihn draufprasselt. Als stundenlang keine Autos durch das Dorf gefahren sind und sie auf der Hauptstrasse dem Geruch entlangspazieren konnten, immer der Nase nach. Jeden Sommer ist ihre Katze abgehauen und dann ein ganzes Jahr lang nicht mehr zurückgekommen. Irgendwer hat das Vieh dann mal bei der Tierkadaverstelle gesehen. Die alte Frau aus der Käserei, von der alle wussten, dass sie eigentlich eine Hexe ist und ihren Mann so lange im Kühlschrank eingefroren hat, bis seine Wimpern abbrachen, hat daraufhin eine ähnlich aussehende Katze vor ihrem Laden angebunden wie einen Hund. Alle Kolleginnen im Büro, die ich mittlerweile lieb habe wie eine Familie, lachen und erfreuen sich an der Anekdote. Es macht mich traurig, insgeheim zu wissen, dass all diese Freundschaften irgendwann zu Ende gehen werden. Wir lieben uns jetzt alle heiss und innig, aber diese Gefühle werden schwinden. Jemand wird Kinder bekommen und keine Zeit mehr haben, Schokoladenkuchen zu backen und ins Büro zu bringen. Wir werden konsumiert von den Beziehungen mit den Lebenspartner*innen und den Blutsverwandten, und wir merken es nicht einmal. Wir denken dann an die Gerüche, die uns in irgendeiner Art und Weise miteinander verbinden, denken an Zeiten, die sich nie wieder rekonstruieren lassen und in der Vergangenheit lose herumliegen wie eine Packung Kaugummi in meiner Handtasche.

Ich lasse eine pinke Blase platzen und gehe weiter.

Die ganze Sache entwickelt sich für mich zu einem ernstzunehmenden Projekt. Eine Herzensangelegenheit. Ich will mir bildlich vorstellen, wie die Menschen in meinem Umfeld ihre Kindheit verbracht haben, möchte mir die Gerüche vorstellen, in ihre Schuhe treten und alles miterleben. Ich will erfahren, woran man sich alles erinnern kann, was man alles auf dieser Welt riechen kann. Die Erinnerungen meiner Mitmenschen sind gratis, ich darf sie einfach mitnehmen. Ich entwickle eine Sucht nach diesen Informationen, möchte genau wissen, was es alles an Antworten auf diese Frage gibt. Pinienbäume, Gülle, Sonnencreme, meine Grossmutter. Der Bauernhof auf meinem Schulweg, nasses Gras, Kaffee und Kuchen im Haus meiner Eltern. Ich möchte ein Banner aufhängen, mit Himmelschrift die Frage in die Lüfte schreiben, auf einem Dach stehen und sie herunterschreien. Die Menschen in meinem Umfeld sind meine Poesie, ich jage sie mit einer Kalaschnikow, in deren Magazin ich Patronen aus tiefgründigen Fragen lade.

Was ist der Geruch deiner Kindheit? Woher weisst du, dass du nicht schon immer so erwachsen warst, mit Schuldnern und Gläubigern, mit Menschen, die dich so halbwegs mögen, und einem Job, den nur du brauchst, er aber dich nicht? Woher willst du wissen, dass du nicht immer noch ein Kind bist, im dreihundertfränkigen Anzug eines Erwachsenen, das noch den Zigarettenrauch des Vaters in der Nase hat? Wer sagt dir, wann du gross genug bist, um gross zu sein?

Und was ist der Geruch meiner Kindheit? Ich bin ein junges Mädchen, vielleicht dreizehn Jahre alt, und ich kann abends nicht einschlafen. Ich gehe nicht gerne in die Schule. Ich wünsche mir Freundinnen, wie die anderen Mädchen sie haben, aber es fällt mir schwer, mir welche zu machen. Meine Mutter bereitet mir jeweils, wenn ich wieder eine schwierige Nacht vor mir habe, eine warme Milch mit Honig zu. Und was sonst noch?

Ich kann die Gerüche nicht alle beschreiben, es fehlen mir die Worte dazu. Worte für die wirklich wichtigen Gefühle und die Dinge in unserem Leben, die uns tief drin beschäftigen. Ich habe keine Worte für die Sehnsucht in mir, die einerseits schmerzt, sich aber gleichzeitig wie eine warme Decke um mich legt. Ich habe keine Worte für die Menge an konkurrierenden Gefühlen, die sich alle gleichzeitig in mir ausbreiten. Sie bekämpfen sich nicht untereinander, sie vermischen sich, formen sich gemeinsam zu einem riesigen undefinierbaren Ball, der nicht auf ein irdisches Vokabular hört. Und vor allem habe ich kein Wort dafür, süchtig nach Erinnerungen zu sein. Also frage ich: «Was ist der Geruch deiner Kindheit?», und alle antworten, wenn auch vielleicht nur, weil sie sich ebenfalls nach Worten und nach Erinnerungen sehnen. Und auch, weil hier eh alle ein bisschen verliebt in mich sind.

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