Text von Gastautorin Nina Kneubühler
Ursula Stähelis Telefon klingelt kurz nach acht Uhr. Auf der anderen Seite der Leitung ist die Aufregung spürbar. Der Mann, der sie an diesem Morgen anruft, redet schnell und ist aufgewühlt. Seine Mutter ist gestorben. Die Familie braucht Unterstützung. «Mein erster Impuls ist da zu sagen: ‹Jetzt muss es nicht schnell gehen, wir haben Zeit.› Ich verlangsame das Tempo und versuche, mein Gegenüber zu beruhigen», erzählt sie.
Am selben Nachmittag empfängt Ursula Stäheli den Mann gemeinsam mit seinem Vater, dem Ehemann der Verstorbenen, in ihrem Atelier, um das weitere Vorgehen zu besprechen. «Der Sohn – ein Schneidiger, so ein Managertyp – mit Tempo. Solche Bewegungen, diese Geschwindigkeit und der Ablauf meiner Bestattung kommen sich manchmal in die Quere», sagt sie. Das Ziel des Erstgesprächs ist, sich kennenzulernen und ein gemeinsames Tempo für die nächsten Schritte zu finden.
«Wie soll die verstorbene Person bestattet werden?», ist die erste Frage, die Stäheli der Familie stellt. Die Bestattungsart beeinflusst das weitere Vorgehen. Erd- oder Feuerbestattung sind die Möglichkeiten, die es in der Schweiz gibt. Eine Erdbestattung muss zwingend auf einem Friedhof stattfinden. Die Feuerbestattung erlaubt es den Angehörigen, nach der Kremation zu entscheiden, ob die Urne beigesetzt wird oder sie die Asche verstreuen.
Es wird eine Kremation geben. In den letzten zehn Jahren wurde die Kremation der Erdbestattung immer häufiger vorgezogen. Heute werden im Kanton Bern neun von zehn Verstorbenen feuerbestattet. Krematorien sind in der Schweiz autonom und verlangen für eine Einäscherung 500 bis 1000 Franken. Verstorbene werden zur Einäscherung nur in einem Sarg zugelassen. Nebst dem Sarg braucht es eine Urne, in der die Asche nach der Kremation aufbewahrt wird. Eine Bestattung kann je nach Leistungen kostspielig werden. Bei einer schlichten Bestattung muss mit ungefähr 2000 Franken für Bestattungsartikel, Transport, Dienstleistung und Organisation gerechnet werden. Im Kanton Bern werden diese Kosten von der Familie selber getragen.
Die Familie plant die Beisetzung und Trauerfeier im engsten Rahmen. Nur ein paar letzte Worte auf dem Friedhof. Da beginnt für die Bestatterin das Feilschen: «Es gibt heute diese Tendenz, alles im engsten Rahmen, möglichst klein und privat durchzuführen. Mein Anliegen ist jedoch, dass der Tod in der Gesellschaft sichtbar ist.»
Früher starb die Mehrheit der Menschen in ihrem Zuhause. Es war üblich, dass sie im Wohnzimmer aufgebahrt wurden und das ganze Dorf vorbeikam, um die Verstorbenen zu verabschieden. Frau Stäheli ermutigt die Menschen, die sie als Bestatterin begleitet, ihre Verstorbenen aufzubahren, sie zugänglich zu machen, anstatt sie bloss im Sarg zu «verräumen».
Ursula Stäheli stieg 2012 ins Bestattungswesen ein, mit der Motivation, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Mit Mitte 50 hat sie sich als Bestatterin selbständig gemacht und in den letzten elf Jahren über 500 Menschen bestattet, durchschnittlich eine Person pro Woche. Bevor sie Bestatterin wurde, studierte sie in Bern und Erlangen Theologie. 30 Jahre lang war Stäheli als Pfarrerin und Seelsorgerin in verschiedenen ländlichen Gemeinden Berns tätig und begleitete unzählige Trauerfeiern. Dabei erkannte sie, wie sich der Umgang mit dem Tod wandelte, wie er heute immer weniger in der Gesellschaft stattfindet. «Das Bestattungswesen Bern wurde immer mehr zum Entsorgungswesen. Die Vielzahl der Bestattungen wird heutzutage wie reine Dienstleistungen gehandhabt», ergänzt sie. Im Zentrum ihrer Praxis steht der Grundsatz, den Verstorbenen einen würdevollen Abschied zu gewähren.
Sobald der Ablauf der Bestattung geklärt ist, lädt Stäheli die Angehörigen ein, dass sie den Sarg gemeinsam schliessen, bevor er ins Krematorium überführt wird. «Wir sagen Adieu und machen sie für die letzte Reise bereit. Es wäre schön, wenn Sie dabei sind. Das ist immer sehr heilsam.»
Sie ist, bis auf die beiden Frauen, die sie ausgebildet hat, die Einzige, die das Sargschliessungs-Ritual anbietet. «Die Sargschliessung ist kein Spektakel, bloss ein letztes Beisammensein», sagt sie mit einem gutmütigen Lächeln. Anfängliche Bedenken von der Seite der Angehörigen ist sie sich gewohnt. Für Laien ist das ein fremder Prozess, der in Begleitung einer erfahrenen Person aber gut funktioniert.
Schönheit tröstet
Ursula Stäheli arbeitet in ihrem Atelier. Ein eiserner Bogen mit weihnachtlichen Sternen schmückt den Eingang. Der offene Raum hat eine grosse Fensterfront und erinnert vom Geruch her an etwas zwischen Bioladen und Bibliothek. Eine Wand ist in einem dunklen Türkis gestrichen, die textilen Details tragen dieselbe Farbe. Der Raum strahlt eine angenehme Ruhe aus. Das geordnete Bücherregal ist gefüllt mit Werken, die sich thematisch vom Tod über die Theologie bis hin zur Psychologie erstrecken. An der anderen Wand steht ein weisses Regal mit kugelförmigen Holz- und Keramikurnen. Eine Ecke ist durch einen Vorhang vom Rest des Raumes abgetrennt – das Büro. Dort erledigt Stäheli administrative Aufgaben: Todesbescheinigungen ans Zivilstandsamt des Sterbeorts mailen, den Tod bei der Gemeinde anmelden und Termine für die Kremation oder Erdbestattungen ausmachen. Die Meldung eines Todesfalls muss zwingend innerhalb von 48 Stunden erfolgen, die Kremation darf frühestens nach dieser Frist durchgeführt werden. Diese Regel stammt noch aus Zeiten, in denen der genaue Todeszeitpunkt noch nicht so präzise festgestellt werden konnte.
«Bin gleich so weit», sagt Frau Stäheli und schaut kurz von ihrem Bildschirm auf. Sie trägt eine runde Brille, das graue Haar kurz geschnitten, eine lockere türkise Hose und ein Kleid aus Baumwolle in derselben Farbe. Bevor sie das Atelier verlässt, schnappt sie einen dunkelblauen Mantel vom Garderobenständer und bindet sich einen Schal um den Hals.
Auf dem Parkplatz hinter dem Atelier steht ein eingeschneiter weisser Mercedes Vito. Die E-Mail-Adresse des Bestattungsateliers ist auf dem Kofferraum aufgedruckt. Rechts und links das Logo mit Leitsatz «begleiten – bestatten». Stäheli greift nach einer Plastikschaufel und beginnt mit ausgestreckten Armen und auf Zehenspitzen, die Scheiben und das Dach vom Schnee zu befreien. Leichen dürfen nur in einem dafür vorgesehenen Auto transportiert werden, das ist eine der wenigen gesetzlichen Bestimmungen für das Bestattungswesen, die schweizweit gelten. «Wir gehören eigentlich zur Kategorie Transportunternehmen», erklärt Stäheli grinsend.
Sie fährt die schmale Landstrasse entlang. Keine zehn Minuten später erreichen wir eine grosse Scheune. Das Sarglager. Sie schlägt rückwärts in den Kiesweg ein und fährt ans Tor heran. Im Kofferraum des weissen Transporters gibt es eine Holzvorrichtung mit einem Fach für den Sarg und weiteren für den Wagen, Stoffe und Material, das Stäheli für die Aufbahrungen braucht. Sie zieht einen wendigen Wagen aus dem Auto und klappt ihn auf. «Die meisten Bestatter:innen arbeiten mit einer Bahre. So wie diese Sanitätsbahren. Aber ich komme besser zurecht mit dem hier», meint Stäheli.
Das Sarglager ist ein ungefähr 30 Quadratmeter grosses Abteil in einer Scheune. Die Särge stehen dicht an dicht und sind in Plastik eingepackt. Oben auf dem Querbalken der Scheune lebt eine Schleiereulenfamilie, «die scheissen mir da von oben herunter auf die Särge, deswegen muss ich immer alles abdecken», sagt Stäheli schmunzelnd. Mit ungefähr zehn Särgen ist das Lager ziemlich voll. Ein Sarg ist standardmässig 190 Zentimeter hoch und 60 Zentimeter breit und wiegt um die 20 Kilogramm. In Stähelis Lager gibt es zwei Holzarten: verleimtes Pappelholz und Tannenholz – so naturbelassen wie möglich. Die Särge sind im Schulterbereich leicht gebogen und passen sich der Körperform an. Üblich sind im Kanton Bern gerade Särge, die gegen das Fussende etwas schmaler werden. Bei Feuerbestattungen werden tendenziell leichtere und günstigere Särge ausgewählt. Für den laufenden Auftrag wählt Stäheli deshalb einen Sarg aus verleimtem Pappelholz. Die gebogene Version aus Pappelholz kostet um die 700 Franken.
Stäheli kippt den Sarg, der sie um einen halben Kopf überragt, gekonnt auf den Wagen. «Anfangs war es körperlich schon sehr anstrengend. Da konnte ich vieles noch nicht alleine. Jetzt, mit mehr Übung, schaffe ich fast alles. Aber es braucht schon immer vollen Einsatz», erzählt sie. Sobald der Sarg auf dem Wägeli liegt, holt sie den Akkuschrauber hervor und löst eine Schraube nach der anderen. Sie hebt den Deckel ab und stellt ihn daneben. Im Sarg sind zwei Säcke mit Hobelspänen – Überreste des Sargbaus.
Frau Stäheli bestellt keine ausgekleideten Särge. So kann sie bei jedem Auftrag individuell entscheiden, welche Farbe zu der Kleidung der verstorbenen Person passt. Zwischen den anthrazitfarbenen und ferrariroten Stoffen zieht sie den lilafarbenen aus dem Regal hervor. Ein dreiteiliger Stoff aus Baumwolle, leicht glänzend und wattiert. Geschickt und kräftig tackert sie den Stoff an der inneren Wand des Sargs ein. Dann leert sie einen Sack Hobelspäne in den oberen Bereich aus. Sie präpariert die Späne im Kopfbereich und befestigt sie, indem sie auch dort einige Male den Tacker in den Stoff jagt. Zuletzt legt sie eine Decke in den Sarg und füllt das Kissen mit Hobelspänen. Ihre feinen Hände streichen die letzten Falten glatt. Der Sarg sieht einem ordentlich gemachten Bett sehr ähnlich. «Für mich sind die Verstorbenen mehr als eine Leiche. Das finde ich ein furchtbares Wort. Das sind Menschen mit einer Lebensgeschichte.» Sie holt eine kleine Dose aus dem Regal und entnimmt ihr einige Federn, die sie in den Sarg fallen lässt. «Als Zeichen der Leichtigkeit.»
Um den Sarg zu verschliessen, werden dekorative Schrauben verwendet, die sich von Hand in den Sargdeckel drehen lassen. Stäheli schneidet ein Stück leuchtend blaues Band von der Rolle ab, kombiniert es mit einer Version mit Schneeflocken drauf – «es ist schliesslich Winter» – und leimt die Bänder mit einer Heissleimpistole am Sarg fest. «Fast fertig», sagt sie und faltet sorgfältig die Flügelchen des Papierschmetterlings auf, bevor sie ihn ebenfalls auf den Sarg klebt. «Das ist mein Markenzeichen – das Band und der Schmetterling. So erkenne ich meine Särge im Kremi schon von Weitem».
Frau Stäheli rollt den Sarg zum Auto. «Immer Fuss voran, die Person soll sehen, wo es hingeht». Vor dem offenen Kofferraum des Autos bleibt sie stehen, hebt den Sarg mit geradem Rücken leicht an und lässt ihn auf einem Stück Filz ganz nach vorne gleiten. «Wenn der Sarg leer ist, geht das problemlos alleine.» Einen vollen Sarg kann sie nicht alleine handhaben. Wenn der Sarg zu aufrecht gehoben wird, fallen die Personen vorüber – «die sind ja nicht angeschnallt», deshalb kommt sie, wann immer möglich, in Begleitung einer Vertrauensperson bei den Verstorbenen an.
Sobald der Sarg sicher im Kofferraum verstaut ist, klappt Stäheli das Wägeli zusammen und versorgt es ebenfalls. Mittlerweile holt sie die meisten Verstorbenen in Pflegeheimen oder im Spital ab. Häufig ohne das Beisein der Familie. Heute ist die Ansicht, dass man die Verstorbenen gerne lebendig in Erinnerung behalten möchte, weit verbreitet: «Die Person gestorben zu sehen, macht nochmals etwas mit einem – sie lebt eben nicht mehr. Man hält sich an einer Illusion fest», sagt Stäheli bestimmt. Der Tod hat in der Gesellschaft kaum noch Platz, deswegen versucht sie Mut zu machen, dass die Schritte bis zur Bestattung gemeinsam mit den Angehörigen gegangen werden. Das Aufbahren ist für sie auch heute ein wichtiger Bestandteil ihrer Praxis, wird als Angebot aber immer seltener genutzt.

In Respekt vor dem Leben
Kurz nach dem Mittag trifft Stäheli beim Spital ein, um die verstorbene Frau abzuholen. Beim Hintereingang wartet eine Bekannte von Frau Stäheli. Frau Schürch ist Bäuerin und unterstützt Stäheli, wann immer sie kann, beim Abholen und Ankleiden der Verstorbenen. Die beiden begrüssen sich mit einer Umarmung. «Also, wollen wir?»
Einige Minuten stehen sie im kargen Untergeschoss des Krankenhauses. Pflegekräfte und Ärzt*innen gehen vorbei und grüssen freundlich. «Wir warten auf den internen Bestatter. Er hat selbst scheinbar zu viel zu tun und mir den Auftrag übergeben», erklärt Stäheli.
Wenig später kommt er ganz in Schwarz gekleidet, mit nach hinten gekämmtem Haar an, und reicht den beiden Frauen die Hand. Sie folgen seinen schnellen Schritten zum Raum, wo die Verstorbene abgeholt wird. Bestimmt schliesst er die Tür des Aufbahrungsraums auf und schaltet das Licht ein. Es ist so kühl, dass niemand die Jacke auszieht. Der Raum ist düster, unerwartet klein und wird von einem knallig orangen Vorhang geteilt. Die Lüftung summt. Es gibt vier Abteile mit jeweils einem Pflegebett drin. Der Platz reicht gerade, damit man sich an beiden Seiten neben das Bett stellen kann. Alle Abteile sind besetzt – «das erste Mal in diesen elf Jahren», meint Stäheli. Zwischen den Bewegungen des Vorhangs erhaschen sie einen ersten Blick auf die Verstorbenen.
Der Bestatter schüttelt den Kopf. Die Person, die wir abholen sollen, ist nicht korrekt angeschrieben. Er schaut in die anderen, vom orangen Vorhang abgetrennten Abteile. «Drei Männer – also muss es die hier sein». Der Bestatter ergänzt die Todesbescheinigung und überreicht sie Frau Stäheli. Ohne das Dokument darf sie niemanden abholen.
«Also, ich lasse euch Frauen an die Arbeit. Ich muss weiter», verabschiedet er sich.
Es kehrt Ruhe ein.
Ursula Stäheli steht einen Moment einfach da. «Ich klopfe immer zuerst an, trete langsam ein und schaue, was mir entgegenkommt.» Sie tritt ans Bett und begrüsst die Verstorbene. Die 81-jährige Frau ist starr, hat blasse Haut und ist bis zu den Schultern zugedeckt mit einem weissen Leintuch. Stäheli verneigt sich: «In Respekt vor dem Leben, so wie es war, in Respekt vor dem Schicksal, vor diesem Ende.»
Bevor die Arbeit beginnt, nimmt sie zwei Paar blaue Latexhandschuhe aus der Schublade und streckt Frau Schürch welche hin. Gemeinsam decken sie die Verstorbenen ab und legen das Leintuch auf den Wäschewagen. Frau Schürch schaltet die Lüftung aus und das Summen verstummt.
Stäheli nimmt die Kleidung aus der Tüte, die ihr die Angehörigen mitgegeben haben. Ob es das Lieblingsoberteil, die Hochzeitskleidung, die schmutzige Gartenhose oder etwas ganz Neues ist, ist von Familie zu Familie individuell.
Die beiden Frauen stellen sich je an eine Seite des Pflegebetts. Sie beginnen mit der Hose, heben jeweils ein Bein an und ziehen ein Hosenbein nach dem anderen hoch. Dann folgt das rosafarbene Oberteil, das von vorne bis zu den Schultern und dann über den Kopf gezogen wird. «Das ging auch schon einfacher», keucht Stäheli. Nach einer Weile beginnt sich ein Geruch breit zu machen, der an Schwefel erinnert. «Tut mir leid, Frau Schmied, wir sind ein wenig grob», sagt Stäheli besänftigend.
Wieder ertönt das Summen der Lüftung. 15 Minuten sind vergangen. Frau Schürch schaltet sie erneut aus.
Mit geübten Handgriffen und begleitet von sanften Worten richten sie die Kleidung der Verstorbenen, bis alles an Ort und Stelle ist.
Gerade als sie mit dem Ankleiden fertig sind, bekommt Stäheli einen Anruf. Die Angehörigen der verstorbenen Frau möchten sie gerne noch sehen und bei der Sargschliessung dabei sein, obwohl sie sich gegen eine Aufbahrung entschieden haben. Für Stäheli ist das eine positive Überraschung. «Überraschung» ist dabei nicht ganz zutreffend – es ist nämlich nicht das erste Mal, dass sich die Bedürfnisse einer Familie in Bezug auf den letzten Kontakt mit ihren Verstorbenen noch verändern. Genau deshalb bietet sie an, dass die Angehörigen sie beim gesamten Bestattungsablauf begleiten dürfen.
Während Frau Stäheli den Sarg aus dem Auto holt, drückt Frau Schürch den Knopf am Pflegebett und fährt es bis zum Anschlag hoch. Wenn die Bettkante und die Sargkante auf derselben Höhe sind, können sie die Verstorbene mühelos in den Sarg ziehen und absinken lassen. Stäheli rollt den Sarg herein, löst die Schrauben aus dem Deckel und stellt ihn an die Wand. «Also jetzt ziehen wir sie zuerst ganz an die Bettkante.» Sie stellen sich beide an die gleiche Seite des Betts, legen die Arme unter den Körper: «Eins, zwei, drei».
Wieder setzt die Lüftung ein. Frau Schürch schaltet sie aus.
Sie greifen ein zweites Mal unter den Körper der Verstorbenen, ziehen sie bis zum Sarg und lassen sie langsam hineinsinken. «So, jetzt betten wir sie noch schön ein.»
Stäheli löst mit ein paar Händedrücken die Totenstarre an den Ellenbögen und biegt die Arme, um die Hände auf dem Oberkörper abzulegen. Frau Schürch streicht sanft über die Augen und verschliesst sie. «Es ist ziemlich kalt draussen», sagt Stäheli und deckt die Verstorbene mit der lilafarbenen Decke zu. Sie richtet das Kopfkissen unter ihrem Kopf und hält einen Moment inne. «Ich richte Ihnen noch liebe Grüsse von Ihrer Familie aus.»
Vor dem Haupteingang des Spitals wartet die Familie auf die Bestatterin. «Wenn sich Angehörige auf so etwas einlassen, ist es immer sehr schön. Und dann pressieren wir überhaupt nicht. Es braucht einfach so lange, es braucht.»
Obwohl die Zusammenarbeit mit den Angehörigen bedeutet, immer in Kontakt mit trauernden Menschen zu sein, ist das für Stäheli kein Hindernis: «Ich begegne ja einem Teil des Lebens dieser Menschen, die ich begleite.» Zwischenschritte wie die Sargschliessung oder das Aufbahren können die Angehörigen in ihrer Trauer enorm unterstützen. Obwohl die Trauer von der Gesellschaft negativ wahrgenommen wird, ist sie notwendig und unser Mittel, mit einem Verlust umzugehen. «Die Trauer sollte nicht als Gespenst oder als etwas Bedrohliches gesehen werden. Schliesslich ist sie das, was bleibt, wenn jemand stirbt. Sie bildet eine Brücke zu der Person, die verstorben ist», erklärt Stäheli.
Die letzte Reise
Stäheli begrüsst Tochter und Sohn der Verstorbenen und informiert sie kurz über den bisherigen Verlauf. Man merkt den beiden Geschwistern die Spannung an. Als die Ungeduld spürbar wird, startet sie mit dem Ritual. Sie geht voraus, führt sie durch den Eingang des Spitals zum Raum, wo ihre Mutter liegt, öffnet vorsichtig die Tür und sagt: «Kommt einfach herein – in eurem Tempo.»
Die Angehörigen folgen einen Moment später. Zögerlich kommen sie zur Tür herein, als ob sie mit jedem Schritt, den sie gehen, spüren wollen, was diese Begegnung mit ihnen macht. Beide sehen ihre Mutter das erste Mal, seit sie verstorben ist.
«So ein schönes Lila, das passt gut zu unserer Mutter», staunen sie – erfreut, wie farbig das Innere des Sargs ist. Es dauert ein wenig, bis sie sich in die Nähe der Mutter trauen. «Es ist ja gar nicht schlimm, bloss anders.» Einen Moment stehen sie einfach da, teilen Erinnerungen aus der Kindheit und Geschichten über ihre Mutter. Es scheint, als würde dem Raum wieder ein bisschen Leben eingehaucht. Für einen kurzen Moment geht es nicht um den Tod der Mutter, sondern um die Erinnerungen, die sie mit ihr teilen.
Zärtlich streichelt die Tochter ihrer Mutter über die Hand, versucht ihre strenge Frisur wieder zu einer etwas lockereren zu richten. Es vergeht eine halbe Stunde, in der Frau Stäheli stille Begleiterin ist. «Darf ich noch etwas in den Sarg legen?», fragt der Sohn nach einer längeren Stille und nimmt einen liebevoll verzierten Briefumschlag hervor. Die Tochter holt selbstgebackene Spitzbuben, Jasskarten und einen Orchideenzweig aus ihrer Tasche und legt sie der Mutter in den Sarg. Dann zieht sie ihr ein paar selbst gestrickte Wollsocken an – die allerersten, die sie fertiggeschafft hat.
Frau Stäheli überlässt den Raum für einen Moment den Angehörigen und wartet vor der Tür. «Ich mache eigentlich gar nichts. Ich bin einfach da, das gibt Sicherheit», sagt sie zufrieden.
Als sie nach einigen Minuten wieder hereingebeten wird, ist es Zeit, den Sarg zu schliessen. Stäheli hebt den Deckel und legt ihn bedacht auf den Sarg. «Jetzt behüten wir Ihre Mutter, wir setzen den Hut drauf, damit ihr nichts geschieht. Genau so wie wir sie jetzt noch gesehen haben, so bleibt es jetzt.» Dann nimmt sie die Schrauben hervor und reicht den Angehörigen jeweils eine, die sie von Hand eindrehen können. «Gute Reise», sagt Stäheli – dann ist der Sarg verschlossen, die vier Schrauben fest im hellen Pappelholz vergraben. «Das ist wie eine Barke, die jetzt über den Lebensfluss auf die andere Seite übergeht, und ihr habt bis zum allerletzten Moment gesehen, wie es eurer Mutter geht – das ist doch das Schönste, was passieren kann.»
Der Sohn stösst den Sarg nach draussen, wo der weisse Mercedes Vito mit offenem Kofferraum bereitsteht. Gemeinsam laden sie den Sarg ein und verweilen einen kurzen Moment vor dem offenen Kofferraum. Frau Stäheli versichert den beiden, dass sie ihre Mutter sicher ins Krematorium bringen wird. Die Angehörigen bedanken sich herzlich für ihre Arbeit und betonen, wie wertvoll und schön es war, dass sie beim Sargschliessen dabei sein konnten. Stäheli lässt den Warnblinker dreimal aufblinken und sieht die Angehörigen im Rückspiegel winken.
Wenig später fährt sie durch das Eingangstor des Friedhofs und parkiert rückwärts vor dem Eingang des Krematoriums. Einige Treppenstufen führen nach oben zum Diensteingang. Stäheli holt einen schweren Schlüsselbund hervor und schliesst die Tür auf.
Um den Sarg vom Parkplatz ins Krematorium zu überführen, gibt es einen Lift. Sie rollt den Sarg auf dem Wagen parallel zum Eingang und legt die Schlaufen auf beiden Seiten des Sargs an. Per Knopfdruck wird er in die Luft gehoben. Oben steht der Sargwagen bereit. Frau Stäheli rollt den Sarg durch die graue Halle zu einem der drei Kühlräume. Bis zum Termin der Kremation am übernächsten Tag verbleibt er dort mit den anderen Särgen, die darauf warten, kremiert zu werden. Frau Stäheli stellt die runde Keramikurne auf den Sarg, bevor sie das Krematorium verlässt.
Das, was bleibt
Im Kühlraum sticht der Sarg mit dem Band und dem Schmetterling zwischen den anderen heraus. Im violett gestrichenen Krematorium wird ein Sarg nach dem anderen auf einer Schiene in den ebenfalls violetten Ofen hereingefahren. Der Ofen ist um die drei Meter hoch und ungefähr genauso breit. Vom Zeitpunkt der Einfahrt bis zur Einbettung der Asche in die Urne dauert es circa drei Stunden. Zurück bleibt die Kalksubstanz der Knochen, die Knochenasche. «Das ist aber nicht bloss ein kleines Hämpfeli, da ist recht viel übrig am Ende», erklärt Stäheli. In der Regel sind es 1,5 bis 2 Kilogramm. Die Menge ist abhängig von der Struktur und Beschaffenheit der Knochen und der Körpergrösse der Person.
Nach der Kremation holt Stäheli die Asche der Verstorbenen ab, um sie, wie gewünscht, beim Ehemann abzuliefern. «Es ist ein besonderer Moment, wenn einem die Person, die man 60 Jahre an seiner Seite hatte, plötzlich in einer Tonkugel übergeben wird und man weiss: Das ist jetzt alles, was noch übrig ist.» Auch dort gilt: «Schönheit tröstet». Sie setzt die Urne in einen Korb und hüllt sie in ein Tuch, «dass sie wie in einem Nest höcklet», das ist angenehmer und ein wenig diskreter.»
Vom Auto bis zur Haustür muss Frau Stäheli einige Meter durchs Quartier gehen, bis sie vor der Tür steht. Der Ehemann nimmt die Urne so freudig in Empfang, als würde er seine Frau umarmen – jetzt hat er sie wieder bei sich.
20. Februar 2025