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Warum ein objektophiler Grieche aus der Antike ein Vorbild unserer Zeit sein sollte

Dass der Glaube, Berge versetzen kann, ist nicht nur ein abgedroschenes Sprichwort – es ist die Wahrheit. Glaube kann Ratten durch Labyrinthe lotsen, IQ-Werte steigen lassen und Menschen zu Kriminellen machen. Ihr glaubt uns nicht? Wir zeigen es euch. Alles begann mit einem objektophilen Griechen...

Von Lothar J. Lechner Bazzanella

Letzte Woche hatte ich das Vergnügen das Buch «Im Grunde gut» von Rutger Bregman zu killen. In den knapp 450 Seiten versucht der Historiker die Leser:innen davon zu überzeugen, dass der Mensch im Grunde gut ist. Kein Wolf, kein Brutus, kein egoistischer Grobian, kein Krieger. Nicht allzu tief in uns liegt laut Bregman ein ehrlicher, gütiger Kern, der sich nach Freund:innen und Harmonie sehnt. Cooler Gedanke, tolles Buch.

Besonders begeistert hat mich bei der Lektüre ein kurzer Abschnitt mit dem Titel «Pygmalion-Effekt». Schon einmal davon gehört? Ich nicht. Für meine unwissenden Freunde: Der Pygmalion-Effekt geht auf den deutschamerikanischen Wissenschaftler und Psychologen Robert Rosenthal zurück. Dieser hatte in den 60er Jahren ein kurioses Experiment geplant: Er bastelte ein Labyrinth, schnappte sich ein paar Ratten und gab sie in zwei verschiedene Käfige. Vor einem Käfig hing das Schild «maze bright» – clever im Labyrinth – und vor dem anderen das Schild «maze dull» – doof im Labyrinth. Ich musste an die Kinderserie «Pinky and the Brain» denken und dabei schmunzeln. In Wahrheit waren die Nager aber genau gleich schlau, keines der Tiere hatte das Labyrinth je zuvor gesehen.

Dann forderte Rosenthal seine Student:innen auf, die Tiere mit Futter durch das Labyrinth zu lotsen. Ergebnis: Die angeblich clevereren Viecher schnitten besser ab, als ihre vermeintlich unterbelichteten Kompagnons. Weshalb? Weil die Student:innen mit den haarigen Genies in der Hand schon mit einer gewissen Einstellung an das Experiment herantraten. Sie waren überzeugt davon, dass ihre Ratten schlauer, schneller, erfahrener waren. Sie glaubten an deren Erfolg. Und gingen so mit ihnen um. Behutsam, mit freundlichen Worten, immer wieder Zuspruch.

Rosenthal adaptierte das Experiment an mehreren Grundschulen in den USA. Rein zufällig wurden einzelne Kinder ausgewählt, die – so versicherte man dem unwissenden Lehrpersonal – im laufenden Schuljahr die höchsten Leistungssprünge machen würden. Am Ende des Schuljahrs wiederholte sich das kuriose Ergebnis: Obwohl willkürlich ausgewählt, schnitten die Schülerinnen und Schüler, von denen die Lehrer meinten, sie würden am besten performen, auch am besten ab. Von dieser Tatsache überzeugt hatten die Lehrpersonen im Laufe des Schuljahres den Auserwählten unterbewusst mehr Aufmerksamkeit, mehr Hilfe geboten. Ein «Komm, das schaffst du ganz bestimmt», ein Lob, wenn es angebracht war, ein «Nicht so schlimm, beim nächsten Mal klappts». Und das Ergebnis davon konnte sich sehen lassen: Bei jungen Lernenden kam es innerhalb eines Jahres durchschnittlich zu einem beeindruckendem Sprung von 27 IQ-Punkten. Geboren war der Pygmalion-Effekt.

Pygmalion deshalb, weil es vor allem cool klingt, geilen Phänomenen irgendwelche griechischen Namen aufzudrücken. Schliesslich hätte man auch vom Rosenthal-Effekt sprechen können. Aber Pygmalion passte einfach wie die Faust aufs Auge. Die älteste Erzählung von Pygmalion stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus, als der Schreiber Philostephanos erzählt, dass Pygmalion sich in eine elfenbeinerne Statue der Aphrodite verliebte und mit ihr – Kopfkino coming – sogar Sex hatte. Richtig berühmt wurde die Lovestory aber erst in den Metamorphosen von Ovid, der um die 0er Jahre durch die Antike latschte. Auch bei Ovid verliebt sich Pgymalion in eine steinerne Frau. Behandelt sie immer mehr wie einen echten Menschen, streichelt sie, singt ihr vor. Schliesslich haben die Götter Erbarmen und erwecken die Statue zum Leben. Die Skulptur wird zu dem, wofür sie gehalten wird. Metamorphose ins Unmögliche. Magie.

So euphoriegeschwängert der Pygmalion-Effekt auch ist – je mehr ihr an mich glaubt, desto eher schaffe ich es auch –, so traurig die Einsicht, wie oft man das Phänomen hat verkümmern lassen. Wie viel unausgeschöpftes Potenzial, verpasste Chancen, miese Zeugnisse und Frust. Nur weil die Person, die dich aufbauen, motivieren und beruhigen sollte, ebendas nicht tut. Schlimmer noch: Die selbsterfüllende Prophezeiung – du schaffst es, weil wir alle davon überzeugt sind, dass du es schaffst – kann auch umgekehrt funktionieren: Du schaffst es nicht, weil alle davon überzeugt sind, dass du es nicht schaffst. 

Vor allem in der Kriminologie wird über dieses Phänomen seit Jahrzehnten diskutiert. In der Wissenschaft hat es einen nicht weniger coolen Namen als Pygmalion erhalten: Der Golem-Effekt. Benannt nach dem stummen, menschenähnlichen Wesen aus Lehm, das in der Literatur vor allem in Prag zum Leben erwachte und dort ab und an mal alles kurz und klein schlug. Wer – auch das ist mittlerweile bei dutzenden Experimenten bewiesen worden – von Autoritätspersonen aller Art, Eltern, Lehrer:innen oder Vorgesetzten, schlecht behandelt wird und spürt, dass man wenig von einem selbst, seinen Fähigkeiten und Leistungen hält, der oder die leistet auch weniger. Es findet keine Entwicklung statt. Und wenn, dann eher eine negative. Das Bild, das einem die Gesellschaft aufdrückt, klebt wie schwerer und stinkender Teer an den Füssen und zieht einen immer weiter nach unten.

Aber nicht nur die da oben entscheiden, was aus dir wird. Ob erhoffte Meisterleistung wie bei Ovid oder unbrauchbarer und unberechenbarer Golem. Einen unfassbar wichtigen Einfluss haben die Freund:innen, Partner:innen und Kolleg:innen. Fatal kann es sein, wenn aus dem engsten Kreise kein Zuspruch, kein Glauben an die eigenen Fähigkeiten strömt. Jordan Peterson, ewig-kritischer und ewig in der Kritik stehender Psychiater und Philosoph schreibt diesbezüglich in seinem Buch «12 Rules for a better life»: «Wenn du dich mit Menschen umgibst, die dein Ziel unterstützen, werden sie deinen Zynismus und deine Destruktivität nicht tolerieren. Stattdessen werden sie dich ermutigen, wenn du Gutes für dich und andere tust.» Freundschaften sind laut Peterson ein gegenseitiges Arrangement, man sei nicht moralisch verpflichtet, jemanden zu unterstützen, der die Welt schlechter macht. Ganz im Gegenteil: «Man sollte Menschen wählen, die wollen, dass die Dinge besser werden, nicht schlechter. Es ist nicht egoistisch, sondern eine gute Sache, mit Menschen zu sein, die auch gut für einen sind.»

Also, hier mein Rat, der klingt als würde ich mit beigem Micro an der Backe, im weissen und leicht verschwitzten Slim-Hemd auf der Bühne stehend Ratschläge für angehende Möchtegern-Manager:innen geben wollen: Wenn ihr spürt, dass man euch nicht ernst nimmt, dass Lehrer:innen oder Chef:innen kein Vertrauen zu euch haben, sprecht darüber und zieht daraus die nötigen Konsequenzen. Umso mehr gilt dies für eure Freundinnen und Freunde. Wer euch nicht nach oben zieht, sondern eure Interessen belächelt, eure Talente nicht sieht, euren Humor nicht lustig findet, wer euch nicht zu Pygmalions Meisterwerk, sondern zum miesgelaunten Golem verzaubern will, wer euch schlichtweg nach unten drückt, der hat wenig Mehrwert in eurem Sein.

Profitiert vom magischen Pygmalion-Effekt. Dabei fällt mir eines meiner Lieblingszitate von Kafka ein: «Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereitliegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft.» Hoffen wir auf den Zauber des Pygmalion-Effekts. Beschwören wir ihn. Golems haben wir reichlich und genug.

01. Mai 2022

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