*Hyperakusis ist eine neurologisch bedingte Übersensibilität gegenüber alltäglichen Geräuschen. Sie ist zum Glück nichts Endgültiges, was bedeutet, dass es sehr effektive Ansätze mit nachgewiesener Wirksamkeit gibt, die dabei helfen, die Toleranz gegenüber Geräuschen (wieder) zu erhöhen und die Lebensqualität damit zu verbessern. Dazu gehören die schrittweise Desensibilisierung, die Soundtherapie und die Muskelrelaxation nach Jacobson.
Es waren unangenehme Alpträume, die mich schliesslich dazu bewegten, einen Termin beim HNO-Arzt zu machen. In den letzten Monaten kamen sie immer dann, wenn ich tagsüber extremen Geräuschkulissen ausgesetzt war: in vollen Restaurants, schnelllebigen Cafés, sonstigen Venues mit vielen Menschen und vielen zeitgleich passierenden Gesprächen neben lauter Musik und klirrenden Gläsern, Städten mit viel Verkehr und Trubel – eben überall dort, wo mich akustisch mehrere Reize wie eine Welle überfluteten und ich nichts davon ausblenden konnte. Ich spürte mit jedem Mal bewusster, wie überreizt meine Ohren waren und hatte immer öfter das dringende Bedürfnis, sie mir zuzuhalten. Im Traum kam dann all dieser Lärm wieder, doch selbst in dieser anderen Dimension war ich schlichtweg überfordert mit der Verarbeitung. Es wurde jedes Mal so unaushaltbar laut, dass mir schwindelig wurde und ich aufwachte – mit sehr realen Ohrenschmerzen.
Bei Hyperakusis sind die Ohrenschmerzen, die Betroffene erleben, in der Regel nicht physischer Natur. Die Schmerzen werden oft durch eine übermässige Aktivierung der Nervenbahnen im auditorischen System verursacht. Dazu kommt, dass das auditorische System und das limbische System, welches für Emotionen und Schmerzempfindungen zuständig ist, eng miteinander verbunden sind. Durch die neuronale Überaktivität und die erhöhte Sensibilität des auditiven Kortex kann es passieren, dass das Gehirn Geräusche als schmerzhaft wahrnimmt, auch wenn es keine physische Schädigung oder Verletzung der Ohren gibt.
Nach solchen sehr lauten Tagen und den damit einhergehenden Alpträumen brauchte ich vor allem eines: Ruhe. Vogelgezwitscher war gerade noch angenehm, aber Leute, die ich nebenan leise reden hörte oder sonstige normale Alltagsgeräusche, reizten mich schon. Oropax halfen nur mittelmässig, denn natürlich hörte ich damit immer noch so gut wie alles, wenn auch viel leiser. Diese ganz natürliche Reaktion, mich von zu vielen und zu lauten Sounds isolieren zu wollen (teils auch mit Noise Cancelling Over Ear Headphones), schaffte kurzfristig definitiv eine Erleichterung. Langfristig betrachtet ist es jedoch ein Teufelskreis, der die Geräuschüberempfindlichkeit nur noch mehr verstärkt. Schnell stellte ich fest, dass ich dadurch nur noch empfindlicher wurde und alles viel lauter wahrnahm als zuvor. Wieso das so ist, erklärte mir der Audiologe später. Doch erstmal war ich beim HNO-Arzt.
Er machte mir zunächst nach genauerer Begutachtung ein Kompliment für meine «wunderschönen Gehörgänge», mit denen «alles in bester Ordnung» ist, und schickte mich zum Hör- und Unbehaglichkeitstest. Bei letzterem wird für jede hörbare Frequenz mittels Sinustönen oder Schmalbandrauschen bestimmt, welche Lautstärke für Proband:innen am Audiometer als unangenehm empfunden wird. Bei mir kam Folgendes raus: Zunächst, dass ich auf beiden Ohren absolut perfekt höre, was laut HNO-Arzt mittlerweile bei jungen Menschen nicht mehr so häufig gegeben ist. Das ist ja schon mal schön zu hören! Das andere Testergebnis war dann mehr Bestätigung als Überraschung: Meine Unbehaglichkeitsschwelle lag zum Zeitpunkt des Tests bei 60 Dezibel. Normal wäre etwas zwischen 90 und 110 Dezibel. Ein riesiger Unterschied. Mit dem ausgedruckten Tonaudiogramm und immer noch der Intention, mir irgendwelche professionellen Oropax oder Ähnliches für meine überreizten Ohren zu holen, ging ich zum Audiologen im Untergeschoss.
Verstärkung der Empfindlichkeit bei Geräuschvermeidung
Der Spezialist auf diesem Gebiet fragte ganz genau nach, warum ich denn Gehörschutz für den Alltag haben will. Er erklärte mir, dass das zwar die zunächst logischste Massnahme ist, man aber damit den komplett gegenteiligen Effekt bekommt: Wenn jemand mit Hyperakusis beginnt, laute oder unangenehme Geräusche zu vermeiden, reduziert er die Stimulation des auditorischen Systems. Da das Gehirn ein adaptives Organ ist, wird es die Empfindlichkeit erhöhen, sobald es weniger Geräuschstimulation erhält. Das Gehirn dreht quasi den inneren Regler auf, um für einen Ausgleich zu sorgen. Warum ist eigentlich klar: Unsere Ohren wollen etwas hören; dazu sind sie da. Angenommen, wir wären für längere Zeit in einer schalldichten Kabine, dann würde unser Gehirn den inneren Regler so lange aufdrehen, bis wir irgendein Geräusch wahrnehmen können. Dieser Mechanismus geschieht, indem die neuronale Verstärkung in den auditorischen Bahnen erhöht wird. Dadurch verschlimmert sich die Hyperakusis und normale Geräusche werden noch intensiver, lauter und unerträglicher wahrgenommen als zuvor. Konsequent Geräusche zu meiden oder sich zu sehr an stille Umgebungen zu gewöhnen, ist also keine gute Idee und verschlechtert die eigene Toleranzschwelle. Die ständige «Sound Avoidance» kann sich darüber hinaus auch auf die mentale Gesundheit auswirken und chronischen Stress, soziale Isolation oder eine stark ausgeprägte Angst vor Geräuschen fördern.
Was hilft also tatsächlich?
Kostenlose Soundtherapie, zum Beispiel mit myNoise
Eine Empfehlung, die ich bekam und vor allem beim Arbeiten am Laptop umsetzen soll, ist die Soundtherapie mit Kopfhörern. Das war für mich zunächst ungewohnt, da ich normalerweise beim Schreiben nichts – und wenn, dann nur ganz selten – etwas nebenbei höre. Doch diese Methode hat sich bereits sehr bewährt – sowohl zur Behandlung von Hyperakusis als auch zur Behandlung von Tinnitus. Dabei wird man kontinuierlich ganz leisen, angenehmen Geräuschen ausgesetzt, um das Gehirn zu trainieren, diese als weniger bedrohlich wahrzunehmen und (wieder) ein neues «Normal» für Stille (die ja sowieso nie komplett still ist) zu etablieren.
Hierfür bietet sich die kostenlose App myNoise an. Sie ist die Idee von Stéphane Pigeon, einem leidenschaftlichen Tontechniker und Audio-Enthusiasten aus Belgien. Mit einem Hintergrund in der Signalverarbeitung und einem Doktortitel in angewandten Wissenschaften bringt Stéphane sein Fachwissen ein, um ein aussergewöhnliches Hörerlebnis für alle zu schaffen. Die App bietet eine sehr vielfältige Sammlung von Klanglandschaften: von Binaural Beats über White Noise bis hin zu bestimmten Hertz-Frequenzen, Solfeggio Tones und Naturgeräuschen ist für jedes Bedürfnis etwas dabei. Die Sounds können zudem über verschiedene Regler individuell angepasst werden. Meine bisherige Erfahrung damit ist super, vor allem, weil man es ohne irgendeinen Mehraufwand eigenständig durchführen kann.
Muskelrelaxation nach Jacobson
Eine weitere Empfehlung des Audiologen war die Muskelrelaxation nach Jacobson. Diese Entspannungstechnik, bei der verschiedene Muskelgruppen bewusst angespannt und dann entspannt werden, sollte am besten abends vor dem Schlafengehen durchgeführt werden. Sie kann bei Hyperakusis ebenso zusätzlich helfen, indem sie die allgemeine Anspannung reduziert, die oft mit der akustischen Übersensitivität einhergeht. Ausserdem normalisiert sich durch die tiefe Entspannung die Reaktionsfähigkeit des Nervensystems, was wiederum die Hyperakusis Symptome lindert. Hierbei gibt es lediglich einen Mehraufwand an 15 Minuten Zeit, die man dafür regelmässig einplanen sollte.
Schrittweise Desensibilisierung
Eine zusätzliche Option, die sich allerdings nicht einfach eigenständig umsetzen lässt und mit einem Kostenaufwand (je nach Versicherungsmodell) verbunden ist, bietet die schrittweise Desensibilisierung. Diese wird oft in Verbindung mit Kognitiver Verhaltenstherapie (CBT) durchgeführt, die hilft, die Reaktionen des Gehirns auf Geräusche zu ändern und langfristig zu verbessern: Bei der Desensibilisierung werden Betroffene schrittweise an verschiedene Geräuschpegel gewöhnt, um ihre Toleranz zu erhöhen. In der Regel bieten Audiolog:innen und Hörakustiker:innen sowie auf Hyperakusis spezialisierte Hörtherapeut:innen solche Desensibilisierungstherapien an. Sie arbeiten oft in Hörzentren oder HNO-Praxen.
Fazit: Man kann sich in diesem Fall mit dem richtigen Wissen sehr gut selbst helfen, um langfristige Verbesserungen zu erzielen. Ansonsten ist es nie verkehrt, sich an spezialisierte Experten zu wenden.
Side note: Bei einer längeren Exposition sehr extremer Geräuschpegel wie etwa bei Konzerten, Festivals und in lauten Clubs sollte man allerdings in jedem Fall Oropax nutzen, um das Gehör vor dauerhaften Hörschäden oder Tinnitus zu schützen.
17. Juli 2024