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Von Punkten und Plänen

Bist du zufrieden mit dem, was du im letzten Jahr geschafft hast? Ja? Gut so. Nein? Nicht so schlimm, das nächste Jahr kommt. Und danach noch viele weitere. Gelegenheit für prächtige Pläne.

Von Lothar J. Lechner Bazzanella

Die vernebelte Zeit zwischen dem einen Jahr, das endet, und dem nächsten, das schon in den Startlöchern steht, ist besonders anfällig für hoffnungsvolle Vorsätze. Höhere Ziele für die 365 Tage, die folgen sollen: Das will ich erreichen, das eine Land unbedingt bereisen, weniger Alkohol und deutlich mehr Wasser trinken, mehr Sport treiben, öfter ins Kino oder an Konzerte gehen.

Anders als die gemeine Social-Media-Bubble, die gute Ansätze allzu gerne als heuchlerisch und optimierungssüchtig abtut, bin ich ein Fan solcher Vorsätze. Wer sich etwas vornimmt, der schätzt die Zeit, in der er die guten Taten unterbringen will. Wer so ins neue Jahr geht, der lebt den einen oder anderen Moment möglicherweise bewusster, finde ich. Der anerkennt vielleicht, wie flüchtig die Tage untergehen, wie schnell Wochen zu Monaten werden und das nächste Jahr schon wieder ein vergangenes ist. Der pfeift auf die Vorwürfe der Heuchelei und Optimierungssucht und sucht sich Gleichgesinnte. «Cheers to a new year and another chance for us to get it right», sagte mal Oprah Winfrey.

Ich habe mir dieses Jahr einiges vorgenommen. Das meiste sollte ich schaffen: Jeden Monat mindestens eine Wanderung machen. Vielleicht ein kleines Stück Land im Süden kaufen. Ausserdem will ich eine neue Sportart ausprobieren und ein fremdes Land bereisen. Ein Festival sollte wieder her und zwei, drei Kilo auf der Waage wieder runter. Keine extravaganten Wünsche, nichts Weltbewegendes.

Dabei hilft mir, dass ich immer schon ein Fan von Listen war – von Aufzählen und Festhalten von wichtigen Dingen, von Abhaken und Durchstreichen von Aufgaben. Ähnlich dem Protagonisten im grandiosen Buch «High Fidelity» von Nick Hornby, das ich dieses Jahr – wie Ende 2023 fest vorgenommen – gelesen habe, brechen Listen für mich Komplexes runter. Sie sorgen für eine süsse, beruhigende Note. Sie verleihen den absurden Tagen einen Hauch von Ordnung oder zumindest deren Schein. Und da lässt es sich manchmal besser schlafen. Bei Hornby sind es Listen wie «Die Top 5 meiner Trennungen» oder «Die Top 5 der Dinge, die mich bei anderen nerven». So weit gehe ich dann auch wieder nicht, aber ihr versteht, was ich meine.

Klar bleibt: Von solchen Listen und Vorsätzen muss man sich ganz sicher nicht hetzen lassen. Am Ende ist es doch einerlei. Aber sie dürfen mir – wenn ich Wochen und Monate plane – ein kleiner Leitfaden sein, der leise flüstert: Da, das eine Wochenende. Da könnte man was machen. Ruf ein paar Freunde an und ab in die Berge. Dann bist du deinem Jahresziel schon ein Stück näher. Für jemanden wie mich, der panische Angst davor hat, etwas zu verpassen – Tage, Jahre, ein Leben nicht voll genutzt zu haben –, sind solche Listen ein einfaches Mittel zum Zweck. Da jubelt die FOMO. Da startet man vielleicht ein wenig optimistischer in den Tag, allen voran in den grauregnerischen Zürcher Januar, der jetzt auf uns wartet.

In meinem Schlafzimmer hängt – so viel zum Thema Listen und FOMO – ein Poster mit exakt 5200 kleinen Punkten. Sie alle stehen für eine Woche in einem 100-jährigen Leben. Und jede Woche kreuze ich einen dieser Punkte durch. Die Woche ist um, der Tod ein kleines Stück näher. Für manche makaber, mich ermahnt das Bild jeden Morgen, ein Quäntchen bewusster, aber auch freudiger in den Tag zu starten. Schliesslich ist das Spiel irgendwann mal aus, und so wie ich trinke, wird das deutlich früher als zu meinem 100. Geburtstag sein. Also: Dankbarkeit für den Tag, der kommt, für das neue Jahr, das anbricht, für die Möglichkeiten, die sich einem auftun, Dinge zu machen, bevor man sie eben nicht mehr machen kann. «For last year’s words belong to last year’s language. And next year’s word awaits another voice. And to make an end is to make a beginning», schreibt T.S. Eliot. 

Dabei fällt mir oft eine Szene aus dem Film «Das Beste kommt zum Schluss» ein. Der Erzähler Carter – gespielt von Morgan Freeman – spricht von einer ersten Vorlesung in seinem Philosophiestudium, als der Professor die Studierenden fragt, ob sie gerne wissen würden, an welchem Tag genau sie sterben werden. Die meisten verneinen, Carter selbst bejaht. Seine Begründung: Er wolle das genaue Datum nutzen, um seine verbleibende Zeit besser zu planen und keine wichtigen Gelegenheiten im Leben zu verpassen. 

Gelegenheiten, die jedes neue Jahr genügend mit sich bringt. Wie Rilke schreibt: « Und nun wollen wir glauben an ein langes Jahr, das uns gegeben ist, neu, unberührt, voll nie gewesener Dinge, voll nie getaner Arbeit, voll Aufgabe, Anspruch und Zumutung; und wollen sehen, dass wir es nehmen lernen, ohne allzu viel fallen zu lassen von dem, was es zu vergeben hat […].» Mit diesen seinen Worten darf ich schliessen und mir innerlich ganz leise gratulieren. Für das neue Jahr habe ich mir unter anderem vorgenommen, mindestens zehn Artikel zu publizieren. Der Erste ist geschafft, weiter geht’s.

10. Januar 2025

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