Text und Illustrationen von Florence Fausch
Als wir uns am Hinterausgang des Basler Bahnhofs treffen, beginnt es zu regnen. Wir erkennen uns sofort, obwohl wir uns noch nie gesehen haben. Hi, you are Kateryna, right? Sage ich, als wir uns gegenüberstehen.
Kateryna ist eine der fünf Frauen, die sich auf meinen Aufruf gemeldet haben. Im Frühling dieses Jahres suchte ich nach Menschen, die aufgrund des russischen Angriffskrieges* aus der Ukraine nach Basel geflohen sind und bereit waren, einige ihrer Geschichten mit mir zu teilen.
Da der Regen nicht aufhört und ein starker Wind aufkommt, beschliessen wir, unser Gespräch im nächsten Café fortzusetzen. Kateryna erzählt mir, dass sie die Ukraine trotz des Krieges nie verlassen wollte. Ihre Schwester aber insistierte, dass sie diejenige in der Familie sei, die im Ausland am ehesten eine Arbeit finden würde. Und so ging Kateryna, um ihre Familie im Falle einer russischen Besetzung unterstützen zu können. Fünf Tage später, am 8. März 2022, fiel eine Bombe auf das Haus ihrer Familie. Bei einem Cappuccino in der hintersten Ecke des Cafés stellt sie fest: If my sister hadn’t pushed me away, I’d still be there and not here in Basel. Kateryna spricht weiter von ihrem Zuhause in Bucha, einer Stadt, die etwa 25 Kilometer nordwestlich von Kyïv liegt:
I love the garden around the house, especially in spring when the cherry trees are in blossom. It’s the place where I find strength. When I step outside and stand barefoot in the grass, I can recharge my batteries. I have a coffee in my hand and listen to the birds. It’s a paradise life.
After I left at the beginning of the war, the house was hit by a rocket and my sister was injured. A piece of metal from the rocket is still in her body. She survived only because the neighbors saved her. Here I cry almost every day because it hurts so much.
You know, we lived our lives and then the Russians came and took everything away from us, our whole life. We just wanted to live and we try to do the same here, but with pain, because our people are dying. All Ukrainians feel this pain.
Das Haus hält für Kateryna viele Erinnerungen an ihre Familie, ihren Bruder, ihre Schwester und deren Kinder, mit denen sie viel Zeit verbrachte. Darüber zu sprechen, schmerzt. Doch für sie zählt: Über das Leid und das Unrecht, das in ihrer Heimat geschieht, muss gesprochen werden.
Immer wieder kreisten die fünf Gespräche um den Begriff «home», also Heimat oder Zuhause. Die Erzählungen über die vertrauten Orte, die zum Teil unter Beschuss stehen und nicht mehr so existieren, wie sie es noch vor kurzer Zeit taten, waren für mich sehr intensive und berührende Erfahrungen. «Heimat» erschien in den Erzählungen als ein vielfältiges und wandelbares Konstrukt. Es bedeutete, Erinnerungen an ein Gebäude, eine bestimmte Strasse, an Begegnungen und Freund:innen zum Leben zu erwecken, und damit auch das Vertraute, die Freude, aber auch den Schmerz, den das Erzählen und Erinnern hervorrief. Es ist nicht verwunderlich, dass die fünf Einzelporträts im Buch eine Vielfalt an Erfahrungen und Eindrücken bereithalten.
Im ersten Kapitel beschreibt Ol’ha, dass der Begriff für sie weniger einen Ort als vielmehr die Tatsache bedeutet, dass sie ihre Familie noch bei sich hat.
It’s not about the city, if your family is with you, you will always feel at home. We can see now; all Ukrainians can see what is really important. Only the family. And in a way, documents. And nothing else.
Lesia, die in Kyïv als Anwältin arbeitete, spricht im vierten Kapitel über die anfänglichen Schwierigkeiten, in der Schweiz einen Job zu finden. Nicht arbeiten zu können und die damit verbundene Unmöglichkeit, sich selbst zu verwirklichen, machten es ihr schwer, in Basel wirklich anzukommen.
To arrive and have the feeling of living in a place, I need to be able to realize myself. I worked as a lawyer in Kyïv for nine years and had big plans and goals for my future. For me, work is closely linked to self-realization. It frustrated me that I couldn’t do that here, and it was very difficult for me to find work. I wrote over 400 applications. That’s a stark contrast to Kyїv, where I could choose between different job offers. Nothing happens to me by itself here. But after a long period of searching I am very happy to have found a job as a Consultant in Legal Premium Feedback Services at Swiss International Airlines. It is a job that is directly related to my legal education, professional experience and passions.
Sie schloss das Interview mit der Feststellung: I began to value moments. I lost everything, my job, my apartment, my life in Kyїv. But my parents are alive, I have friends, I am healthy and live under a peaceful sky. And so I have opened a new chapter of my life here.
Was mich bereits zu Beginn des Projektes beschäftigte, war, wie ich als Person, die keine vergleichbaren Erfahrungen gemacht hat, die Geschichten der fünf Protagonistinnen wiedergeben kann. So führt nun ein Ich durch das Buch, das Fragen stellt, aber immer nur von hinten zu sehen ist. Die Protagonistinnen und das namenlose Ich treffen sich jeweils an neuen Orten in Basel. Leser:innen, die die Stadt kennen, werden sich immer wieder an vertrauten Plätzen wiederfinden; am Rhein, vor dem Münster oder eben hinter dem Basler Bahnhof.
Durch die Begegnungen in Basel und die Erzählungen über Kyïv, Kharkiv und Bucha sind die Kapitel auch Porträts der Städte. Die Protagonistinnen stellen Unterschiede und Parallelen fest, während sie vom Ankommen in der neuen Stadt erzählen. So wird das Nachdenken über Basel, seine Bewohner:innen und deren Lebensweisen immer auch zu einer Reflexion über das Leben in der ukrainischen Heimatstadt – und umgekehrt.
In den Erzählungen über das Ankommen in Basel kommt oft ein Gefühl der Fremdheit zum Ausdruck. Zum Beispiel wenn Kateryna beschreibt, wie sie kurz nach ihrer Ankunft in Basel Blumen für ihre Wohnung pflückt.
I don’t know the rules of this country, I’m afraid that someone will come and be angry with me. For example, picking flowers wherever they grow is allowed in Ukraine. I picked some flowers in Switzerland and was suddenly afraid of being caught. I think buying flowers in a shop is absurd. But I felt like a thief and when I brought them it to my apartment and I decided not to do it anymore. I don’t feel free here.
Das klassische Comicformat wird in jedem Kapitel von grossformatigen Zeichnungen durchbrochen, die Aussagen und Erinnerungen illustrieren, die auf mich einen besonderen Eindruck gemacht haben. Vielleicht sind es diese Bilder, die einen neuen Vorstellungsraum eröffnen, denn hier bewegt sich die Graphic Novel besonders stark im Kontrast zwischen Reportage, also der direkten Wiedergabe des Gesagten, und der Interpretation. Es ist die Arbeit an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst, oder Fantasie, die mich an diesem Projekt besonders fasziniert, ebenso wie die persönlichen Gespräche und das aufmerksame Zuhören auf denen es gründet. Dieses Zuhören, mit dem das Projekt begann, ist ein grundlegender Anspruch der Arbeit geblieben, in der ich ein künstlerisches Mittel zu Austausch und Integration sehe.
*Am 24. Februar 2022 befahl der russische Präsident Wladimir Putin einen Grossangriff auf die Ukraine. Als Vorwand für seinen Angriff nannte Putin die angestrebte „Wiedervereinigung“ von Ukrainern und Russen, die eigentlich „eine Nation“ seien. Er bezeichnete den Krieg als „Verhinderung eines Völkermords“ an der russischsprachigen Bevölkerung im Donbass und als „Kampf gegen den Nazismus“ in der Ukraine und sprach dem Land seine Unabhängigkeit und souveräne kulturelle Identität ab.
Diese Darstellung zeichnet ein falsches Bild des historischen Kontextes und der Angriff verstösst gegen das Völkerrecht. Der russische Angriffskrieg ist ein Versuch, die Ukraine und ihre Kultur zu kolonisieren und zu zerstören und die russische territoriale Vorherrschaft auszuweiten, und wird von demokratischen Staaten in aller Welt verurteilt. Der Beginn des russischen Angriffskrieges zwang die fünf Protagonistinnen dieses Buches, neben vielen anderen, die Ukraine und damit ihre Heimat zu verlassen.
*Florence Fausch (1999*) absolvierte 2018 das Propädeutikum für Kunst und Design an der Schule für Gestaltung in Biel. Nach verschiedenen Praktika im Bereich Bühne und Kostüm, unter anderem am Thalia Theater Hamburg und am Schauspielhaus Wien, begann sie ein Studium der Bildenden Kunst an der UdK Berlin. Kurz darauf wechselte sie an die Universität Basel, wo sie im Bachelor Germanistik und Osteuropäische Kulturen studierte und im Winter 2023 abschloss. Diese Graphic Novel ist ihre erste Publikation.
Hast auch du eine kreative Arbeit, die gesehen werden muss? Wir bieten dir bei akut eine Plattform, um genau diese zu publizieren. Sende uns deine Arbeit, eine kurze Beschreibung zu dir und deinem Projekt inkl. Credits an redaktion@akutmag.ch und vielleicht wird auch bald dein Werk bei uns zu sehen sein.
02. Oktober 2024