Unruhe im Waadtländer Jura. 1991. Das Ticken der Uhren hallt durch das abgelegene Tal, doch es ist nicht nur das regelmässige Ticken der Uhrwerke, das Unruhe stiftet. In den Köpfen der Frauen der Uhrenindustrie geht es nicht mehr nur um das präzise Messen von Zeit, sondern um die Frage, ob diese Zeit noch gerecht ist.
Die Arbeiterinnen der Luxusuhrenfabriken, die hier in der Schweiz weltweit bekannte Marken fertigen, leiden unter massiven Lohnungleichheiten, schlechten Arbeitsbedingungen und der fehlenden Unterstützung durch Kinderbetreuung.
Die Frauen bleiben in der Gesellschaft unsichtbar, obwohl sie einen entscheidenden Teil zur Produktion der kostbaren Zeitmesser beitragen. Doch in den Köpfen der Frauen beginnt sich etwas zu regen – die Unruhe breitet sich aus und führt zum ersten Frauenstreik der Schweiz 1991. Ein Akt des Widerstands im Jura – jener Region, in der bereits 150 Jahre zuvor der europäische Anarchismus seinen Ursprung fand.
Der Jura war nicht nur ein Zentrum der Uhrenindustrie, sondern auch ein Ort für soziale und politische Bewegungen. 1871 fand hier der erste Kongress der anarchistischen Bewegung statt, der sich «Erste anti-autoritäre Internationale» nannte. Der Jura war ein Ort, an dem Zeit nicht nur mechanisch gemessen, sondern auch politisch hinterfragt wurde. St. Imier, bekannt für seine Uhrenfabriken, entwickelte sich zu einem Hotspot des Anarchismus, und das Wort «Unruhe» gewann hier eine doppelte Bedeutung: Es stand einerseits für den Widerstand gegen das autoritäre System, andererseits für das Infragestellen der Zeit selbst.
Unrueh – so heisst auch der im Jahr 2022 veröffentlichte Film von Cyril Schäublin, der diese historische Verknüpfung zwischen Uhrmacherei und Widerstand aufgreift. Der Titel verweist auf ein zentrales Element der Uhrmacherei: die «Unruh», das mechanische Herz jeder Uhr. Mit nur 0,007 Gramm gehört sie zu den leichtesten, aber zugleich unverzichtbaren Bauteilen. Sie sorgt dafür, dass das radförmige Schwingsystem der Uhr hin- und her-oszilliert – eine Bewegung, die den Lauf der Zeit erst möglich macht. Über Generationen hinweg lag die Produktion dieser filigranen Bauteile in den Händen von Frauen. Ohne Unruh keine funktionierende Uhr – ohne Frauen keine Unruh. In einem System, das von Zeit, kapitalistischer Verwertung und der Produktion von Objekten geprägt ist, die dieses System mitbedingen, wird die Unruh zum Symbol des Widerstands. Wenn sie auf ihre Herstellerinnen überspringt, wird aus der Unruh der Uhr die Unruhe der Gesellschaft.
Die Unruh, die das Uhrwerk antreibt, wird so zur Metapher für Frauen, die Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in Bewegung halten – oft unbemerkt. Ihr Beitrag hält den «Lauf der Zeit» aufrecht – doch wenn sie stillstehen, bleibt das nicht unbemerkt.
In den USA fand bereits 1858 eine erste dokumentierte Frauendemonstration statt und 1908 rief die Sozialistische Partei Amerikas den ersten nationalen Frauentag aus. In den folgenden Jahren, besonders auf dem ersten internationalen Kongress der Frauenbewegung 1910 in Kopenhagen, wurde der 8. März als Tag des Kampfes für das Frauenwahlrecht und die Verbindung der Frauenfrage mit der Klassenfrage etabliert. In den 1920er Jahren einigte man sich schliesslich auf den 8. März – als Erinnerung an den Streik russischer Textilarbeiterinnen gegen das zaristische Regime – und 1975 erklärte die UNO den 8. März zum Internationalen Tag der Frau.
Nur vier Jahre zuvor, 1971, wurde in der Schweiz das Frauenstimmrecht auf eidgenössischer Ebene eingeführt – Jahrzehnte später als in vielen anderen Ländern. Doch auch nach der Annahme des Gleichstellungsartikels in der Schweizer Bundesverfassung blieb die Lohnungleichheit bestehen.
Zurück im Vallée du Joux: Die Arbeiterin der Uhrenindustrie und Gewerkschafterin Liliane Valceschini gewann Christiane Brunner, die Sekretärin des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverbands (Smuv), dafür, die nationale Streikidee dem Vorstand des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) vorzuschlagen. Dies legte den Grundstein für den ersten nationalen Streik von 1991, der am 14. Juni – genau zehn Jahre nach der Abstimmung, in der das Volk der Aufnahme des Gleichstellungsartikels in die Bundesverfassung zugestimmt hatte – unter dem Motto «Wenn Frau will, steht alles still» stattfand. Rund 500’000 Frauen und einige Männer nahmen teil. Streikverbote wurden durch überlange Pausen, Aushängen von Transparenten, Tragen des Streikbuttons oder demonstratives Nichtstun unterlaufen. Zeit war auch hier ein zentrales Element des Protests. Nicht arbeiten, sich dem Produktionsprozess entziehen, Zeit verschwenden, um für die Zukunft zu kämpfen – all das stiftete Unruhe und machte sichtbar, dass die Gesellschaft ohne Frauen nicht funktioniert.
Der Frauenstreik von 1991 war somit weit mehr als eine Reaktion auf schlechte Arbeitsbedingungen und Ungleichheit – er war eine bewusste Unterbrechung der gewohnten Zeit. Indem die Streikenden sich dem kapitalistischen System entzogen, forderten sie eine neue Zeit: eine Zeit der Gleichberechtigung, des Respekts und der Anerkennung. Der Streik war nicht nur Protest, sondern ein Symbol für die zentrale Rolle von Frauen in der Gesellschaft.
Seither sind Jahre vergangen, und heute wird der 8. März nicht mehr nur als Internationaler Frauentag, sondern als (queer-)feministischer Kampftag begangen. Blumen helfen hier nicht weiter – sie welken, während mutige Feminist*innen ihre Rechte durch Protest und Widerstand erkämpfen. Seit jeher spielen Lesben und trans* Personen (of Colour) eine zentrale Rolle in feministischen Kämpfen und haben Rechte erkämpft, von denen alle hetero cis Frauen heute profitieren. Dennoch werden Lesben und TINA* Personen bis heute oft unsichtbar gemacht oder gar aus der feministischen Bewegung ausgeschlossen. Der 8. März wird daher nicht nur als Frauentag, sondern als feministischer Kampftag bezeichnet – ein Tag, an dem diese fortwährende Diskriminierung sichtbar gemacht und aktiv bekämpft wird, überall dort, wo Frauen marginalisiert, ausgegrenzt oder angegriffen werden.
Erschreckend aktuell sind auch die Forderungen, die bereits vor Jahrzehnten gestellt wurden; Lohngleichheit, gleiche Bildungschancen für Frauen, Bekämpfung der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz, das Ende der sexuellen Gewalt sowie effektive Massnahmen gegen Vergewaltigungen und Gewalt.
Doch statt Fortschritte zu verzeichnen, ist die Lohnlücke seit 2011 sogar von 17,6 auf 18 Prozent gestiegen, wie eine aktuelle Studie von PwC zeigt. Und obwohl Schweizer Unternehmen gesetzlich verpflichtet sind, eine Lohngleichheitsanalyse durchzuführen, zeigt eine Zwischenanalyse, dass mehr als die Hälfte der Unternehmen dieser Pflicht nicht nachkommt.
Zudem wird in der Schweiz alle zwei Wochen eine Frau von ihrem Ehemann, Partner, Ex-Partner, Bruder oder Sohn getötet. Gewalt gegen FLINTA*-Personen – ob digital, physisch oder sexualisiert – ist ein massives Problem und die Zahl der Betroffenen, die sich an Polizei oder Beratungsstellen wenden, steigt. Es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, da es in der Schweiz keine offizielle Stelle gibt, die Femizide erfasst oder eine Statistik zu geschlechtsspezifischen Tötungen führt (siehe Stop Femizid).
Der 8. März erinnert uns daher nicht nur an vergangene Kämpfe, sondern auch an jene, die noch geführt werden müssen. Gerade in Zeiten, in denen konservative und rechtsextreme Kräfte mit ihrer antifeministischen, trans- und queerfeindlichen Ideologie erstarken, ist es wichtiger denn je, gemeinsam Widerstand zu leisten.
Die Unruhe, die 1991 begann, ist bis heute spürbar. Sie ist Teil eines kontinuierlichen Prozesses, der nicht nur die Vergangenheit widerspiegelt, sondern auch unsere Zukunft formt. Der 8. März ist daher mehr als nur ein «Feiertag» – er ist ein Tag des Innehaltens, des Reflektierens und des aktiven Widerstands. Wie die Unruh, die das Uhrwerk antreibt, sind es die Frauen, die die Gesellschaft in Bewegung halten. Ohne die Unruhe der Frauen würde die Gesellschaft stillstehen – ohne ihre Arbeit, ihre Stimmen und ihre Kämpfe, die notwendig sind, um Veränderung zu bewirken.
So bleibt der Kampf um Gleichstellung aktuell. Während das System der kapitalistischen Uhr weiterhin darauf angewiesen ist, dass Frauen unsichtbar bleiben, kämpfen wir weiter für eine Zukunft, in der sie als gleichwertige Akteurinnen anerkannt werden. Der 8. März erinnert uns daran: Veränderung entsteht nur durch Unrueh.