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«Uncanny Valley» – Künstlich generierte Erinnerungen

Was passiert, wenn die Vergangenheit plötzlich lebendig wird? Wenn künstliche Intelligenz längst verstorbene Persönlichkeiten zurückholt oder historische Bilder neu interpretiert? Zwischen Nostalgie und Unbehagen bewegt sich das Phänomen des Unheimlichen, das schon Sigmund Freud beschäftigte. Doch in einer Welt, in der KI unsere Erinnerungen rekonstruiert und manipuliert, stellt sich die Frage: Wie echt sind unsere Geschichte und die Identifikation damit noch?

Von Norma Eggenberger

Als ich etwa sechs Jahre alt war, bekam ich zu Weihnachten eine kleine Roboterkatze, die miauen, schnurren und sich bewegen konnte. Tagsüber fand ich sie entzückend, doch schon nach einem Tag jagte sie mir Angst ein. Nachts, als das unheimliche Miauen und Schnurren ertönte, konnte ich nicht mehr schlafen. Am nächsten Morgen wollte ich sie so schnell wie möglich loswerden.

Dieses Gefühl des Gruselns ist das, was man das Unheimliche nennt, ein Konzept, das schon seit langer Zeit erforscht wird. Der Psychiater Ernst Jentsch erklärte bereits 1906, dass das Unheimliche entsteht, wenn wir an der Natur von etwas zweifeln – etwa an der Frage, ob ein scheinbar lebendiges Wesen wirklich lebendig ist oder ein lebloser Gegenstand plötzlich wie ein lebendiger Organismus erscheint.1 Nach Jentsch beschäftigte auch Sigmund Freud sich in seinem Aufsatz «Das Unheimliche» mit diesem Phänomen, verband es mit der Kastrationsangst2 und fügte weitere Elemente wie den Tod oder Nicht-Tod und die Beseelung von Objekten hinzu. Dabei ist ein zentraler Punkt, dass das Unheimliche immer auch ein Element des Heimlichen in sich birgt.3 Es ist der Moment, wenn etwas, das einst sicher und bekannt war, plötzlich ins Unvertraute kippt. Ein passendes Beispiel hierfür ist die Figur der Puppe Olimpia in E.T.A. Hoffmanns «Der Sandmann», anhand derer Jentsch diese Angst sichtbar macht. Der Protagonist Nathanael hat seit seiner Kindheit Angst vor dem Sandmann, der Kindern die Augen stiehlt – ein Symbol für das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung, die ohne sie durch Wahn oder Angst verzerrt wird. Nathanael hält Olimpia somit für einen Menschen, verliebt sich in sie und verfällt dem Wahnsinn, als er erfährt, dass sie in Wahrheit eine mechanische Puppe ist.

Diese Erfahrung des Unheimlichen in Maschinen und Objekten lässt sich auch auf meinen Zwischenfall mit der Roboterkatze übertragen. Das Unheimliche bei der Roboterkatze und die Illusion einer lebendigen Entität erinnern an das Konzept des «Uncanny Valley», das 1970 vom japanischen Robotiker Masahiro Mori beschrieben wurde. Mori stellte fest, dass Roboter, die menschenähnlicher wirken, zunächst sympathisch erscheinen (vgl. Wall-E). Doch wenn sie zurealistisch werden, entsteht eine gewisse Fremdheit, die uns unheimlich berührt. Erst wenn Roboter kaum noch von echten Menschen zu unterscheiden sind, nehmen wir sie wieder an. Heute erleben wir dieses Phänomen nicht nur bei Robotern, sondern auch bei der Künstlichen Intelligenz (KI), die immer realistischere Bilder und Videos erzeugt. Somit erweist sich auch die KI dabei nicht nur als revolutionäres Werkzeug, sondern auch als Medium des Unheimlichen. Eine Theorie besagt, dass künstliche Wesen uns auch unheimlich vorkommen, weil sie unnatürlich lebendig erscheinen – ähnlich wie Zombies – und uns dadurch an unsere eigene Sterblichkeit erinnern.4

KI und Nostalgie

KI und Nostalgie gehen Hand in Hand, wenn künstlich erzeugte Bilder die Vergangenheit wieder lebendig erscheinen lassen. KI lässt alte, verstorbene Persönlichkeiten scheinbar zum Leben erwecken. Ob es Marilyn Monroe oder eine KI-generierte Version von Elvis Presley ist, die neue Songs singt – die Faszination liegt gerade darin, dass das Vergangene in eine Gegenwart tritt, die nicht die seine ist. In der Literatur, besonders bei Edgar Allan Poe, einem weiteren Pionier der Schauerliteratur, spielt diese unheimliche Rückkehr der Vergangenheit eine zentrale Rolle. Auch Poes Geschichten leben von der Konfrontation mit dem Übernatürlichen und der Auflösung der Grenzen zwischen Leben und Tod. Das Uncanny Valley findet hier eine literarische Entsprechung: Die Toten kehren zurück, doch sie sind nicht ganz sie selbst. Sie sind Abbilder, simulierte Geister, die mit dem menschlichen Bedürfnis nach Nostalgie und Erinnerung spielen.

Ähnlich wie bei Poe funktioniert auch die KI: Um ein Bild der Gegenwart oder der Zukunft zu generieren, ist die KI auf Bilder aus der Vergangenheit angewiesen. Zum Training von Midjourney, Dall-E und weiteren KI-Programmen wurden Milliarden von Bildern aus dem Internet gesammelt, die nun den Horizont aller vermeintlich neuen generierten Bilder begrenzen. Die KI produziert somit vermeintlich immer neues Material, reproduziert dabei aber nur Bilder der Vergangenheit.

Veränderung historischer Begebenheiten durch KI

Der Umgang mit der Vergangenheit durch KI wirft jedoch auch kritische Fragen auf, denn die KI hat das Potenzial, unsere Wahrnehmung von Geschichte grundlegend zu verändern. Der Begriff der «historischen Distanz»5, der vom Historiker Mark Salber Philipps definiert wurde und in der Geschichtswissenschaft eine zentrale Rolle spielt, beschreibt den analytischen Abstand, den Historiker zur Vergangenheit wahren müssen, um objektive Einsichten zu gewinnen. KI-Technologien, die alte Fotografien kolorieren oder animieren, verringern diese Distanz und könnten dazu führen, dass wir uns stärker mit historischen Figuren identifizieren. Diese Annäherung birgt jedoch die Gefahr, dass sie unsere Wahrnehmung der Geschichte verzerrt und uns eine vereinfachte, romantisierte Version der Vergangenheit präsentiert.

Der Forscher und Autor Guido Melo beschäftigt sich mit der Frage, wie KI-Tools das menschliche Verhalten beeinflussen. Dabei hat er das Konzept der „KI-Auslöschung“ geprägt,6 welches die Risiken von KI-Technologien im Hinblick auf die Gestaltung und Löschung menschlicher Aufzeichnungen thematisiert. Nach Melo können diese bestehenden kulturellen und historischen Wissenssysteme verändern oder sogar vernichten. KI hat die Möglichkeit, falsche oder unvollständige Darstellungen der Vergangenheit zu verbreiten und die Wahrnehmung historischer Ereignisse zu manipulieren. Dabei geht es nicht nur um die Veränderung von Bildern, sondern auch um die Schaffung neuer (oder veralteter) Narrative. Diese Fähigkeit, verbunden mit zunehmend fragmentierten gesellschaftlichen Strukturen, könnte nach Melo dazu führen, dass Geschichte verzerrt oder marginalisierte Stimmen zum Schweigen gebracht werden. Melo fand während seiner Forschung heraus, dass KI dazu neigt, stereotype Darstellungen weiter zu verstärken: «During my study, I found that the synthetic generated images of human groups and individuals, particularly those outside of the hetero-patriarchal-able-bodied realm, as well as those of non-European heritage, emerge full of stereotypes. In summary, women, people with disability, queer and non-white folk don’t fare well in image generative systems.»

Des Weiteren stellte er erschreckenderweise fest, dass die Teilnehmer*innen seiner Untersuchung umso mehr mit Vorurteilen reagierten, je voreingenommener, vorurteilsbehafteter und stereotyper das Bild war. Die KI-Bilder beeinflussten somit die Nutzer:innen, und je mehr die KI Vorurteile gegenüber einer Gruppe von Menschen zeigte, desto mehr neigten die Teilnehmer*innen dazu, diese Vorurteile selbst zu reproduzieren.

Politische Dimension der KI

Die Verwendung von KI zur Belebung historischer Bilder wirft somit nicht nur technische, sondern auch ethische Fragen auf: Wie authentisch sind von KI generierte Darstellungen der Vergangenheit? Und wie verändert sich unser Verständnis von historischen Ereignissen, wenn wir auf diese Weise mit der Vergangenheit interagieren? Besonders in sozialen Medien, die diese KI-generierten Inhalte verbreiten, wird die Wahrnehmung von Realität stark beeinflusst. Der Trend, «Point of View»-Videos zu erstellen, die das Leben in verschiedenen historischen Epochen nachstellen, zeigt, welche soziopolitische Macht Nostalgie besitzt. Diese Videos stellen Szenarien dar, die vermeintlich vergangen, aber gleichzeitig nie wirklich existiert haben. Sie bieten ein idealisiertes Bild der Vergangenheit, das insbesondere in politischen Diskussionen eine Rolle spielt.7

Dabei ist Nostalgie kein Phänomen, das nur ältere Generationen betrifft. Der GWI-Zeitgeist-Studie von 2023 zufolge ist die Generation Z die Nostalgischste mit 15 %. Die Millennials sind mit 14 % nur wenig dahinter, und die Neigung, der Vergangenheit nachzuhängen, nimmt mit dem Alter weiter ab.8 Der Grund dafür lässt sich vor allem in der Entwicklung der letzten Jahre suchen, deren Auswirkungen besonders die jüngeren Generationen am stärksten gespürt haben. Viele erlebten Unterbrechungen ihrer Ausbildung, Absolvent:innen hatten Schwierigkeiten, einen Job zu finden, und junge Arbeiter:innen wurden vom Covid-Arbeitsmarkt härter getroffen, indem viele ihre Arbeitsplätze verloren. Diese Unruhen und die Sehnsucht nach besseren Zeiten zeichnen sich auch im politischen Wandel ab – bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen zum Beispiel wurde die AfD bei jungen Wähler*innen mit deutlichem Abstand stärkste Kraft.9

Somit ist die Nostalgie etwas, das in Verbindung von KI und Politik unheimlich werden kann. Denn diese Nostalgie wird oft von politischen Akteur:innen als Strategie genutzt, um Wähler:innen zu mobilisieren, indem sie idealisierte, oft verzerrte Bilder der Vergangenheit auf den sozialen Netzwerken wie Instagram oder TikTok verbreiten. Das Benutzen und Ausnutzen von Nostalgie war bereits vor KI ein beliebtes politisches Tool. Doch durch die Reproduktion neuer «alter» Bilder werden Geschlechterklischees, kulturelle Stereotype und rassistische Zuschreibungen vermehrt verstärkt.10 Geister vergangener Zeiten sind plötzlich wieder auf der Timeline, Dinge, die vermeintlich begraben waren, regen sich und suchen uns heim. So haben Politiker wie Trump und Musk sowie die AfD das Potenzial von KI früh erkannt. KI wird zunehmend als Werkzeug zur Verbreitung rechter Weltbilder eingesetzt, indem nostalgische oder idealisierte Darstellungen der Vergangenheit sowie vermeintlich idyllische Familienbilder erschaffen werden.

Roland Meyer beschreibt in seinem Artikel «Echte Emotionen. Generative KI und rechte Weltbilder» treffend die Gefühlsgemeinschaften, die dabei online entstehen:

«Der digitale Faschismus, (…) ist deshalb so erfolgreich, weil er virtuelle Gefühlsgemeinschaften schafft, die sozial isolierten und technisch vernetzten Individuen Orientierung versprechen. Wenn also die AfD kommerzielle KI-Bildgeneratoren im Wahlkampf einsetzt, dann geht es nicht allein um Desinformation, sondern vor allem geht es um effiziente Affektbewirtschaftung: KI stilisiert echte Emotionen zu unmittelbar lesbaren Bildern. Rechte Akteure haben dies erkannt und nutzen Midjourney & Co. genau so, wie sie konstruiert wurden: als Nostalgiemaschinen, Klischeeverstärker und Apparate zur Vereindeutigung visueller Muster.»11

Das «Uncanny Valley», das einst diese Nostalgie störte, indem KI-generierte Retro-Ästhetik künstlich und fremd wirkte, löst sich zunehmend auf – überlagert von hyperrealistischeren Darstellungen und einer schieren Bilderflut. Doch gerade diese wachsende Gewöhnung an künstlich erzeugte Bilder birgt eine neue Unheimlichkeit: eine scheinbare Normalität, die es aktiv zu hinterfragen gilt. Eine bewusste und kritische Auseinandersetzung wird unerlässlich, um die dahinterliegenden Implikationen zu erkennen und zu reflektieren.

Fazit: Ein Blick in die Zukunft der Nostalgie

Die Künstliche Intelligenz bietet uns somit die Möglichkeit, mit der Vergangenheit zu spielen – sie zu rekonstruieren, zu verändern oder neu zu erfinden. Doch mit dieser Fähigkeit geht auch eine unheimliche Verantwortung einher. Denn was passiert, wenn unsere Erinnerungen durch perfekte KI-Simulationen ersetzt werden? Wenn das Vertraute immer wieder aus dem Vergangenen zurückkehrt, aber nie ganz echt ist? Wenn Nostalgie nicht mehr die warme Sehnsucht nach vergangenen Zeiten ist, sondern ein algorithmisch generiertes Bild oder Video?

Vielleicht müssten wir unsere Nostalgie wieder neu definieren, ohne sie durch einen digitalen Filter zu betrachten. Denn Nostalgie ist mehr als nur eine generierte Repräsentation einer Szene; Nostalgie kann Kontext liefern für die Art und Weise, wie wir uns fühlen und handeln, und kann uns dabei helfen, Menschen und Orte zu erinnern, die von der Geschichte verloren gegangen sind.

Die Frage bleibt, wie wir mit diesen digitalen Geistern umgehen wollen – mit den verzerrten Erinnerungen, die uns durch KI immer wieder begegnen. Das Unheimliche in der KI erinnert uns an diese stets verschwimmende Grenze zwischen dem, was lebendig oder real ist und was nicht, und fordert uns heraus, die Verantwortung zu übernehmen, wie wir die Vergangenheit und unsere Erinnerung an sie gestalten.

1 Ernst Jentsch: Zur Psychologie des Unheimlichen. In: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift. 22 (1906), S. 203–205.

2 Dieses Konzept der Kastrationsangst wurde vermehrt kritisiert, weil Freud die männliche Überlegenheit nie hinterfragte und die anatomischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern als sexuelle Verstümmelung deutete. Erich Fromm zum Beispiel sah diese Unterschiede nicht als biologische Gegebenheiten, sondern als Teil des Geschlechterkampfs, wobei die Verbindung zwischen anatomischen Unterschieden und psychologischer Bewertung auf die historische Unterdrückung der Frau zurückzuführen sei und auf dem Patriarchat basiert. Ausserdem wurden solche Bücher auch immer aus dem Male Gaze (Laura Mulvey) geschrieben – heisst Frauen werden als Bedrohung oder als etwas Unbekanntes (Unheimliches) gesehen und dienen als Signifikant der Kastrationsdrohung und müssen daher unter Kontrolle gebracht werden.

3 Sigmund Freud, «Das Unheimliche», Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geis-teswissenschaften 5/5-6, 1919, S. 297-324.

4 National Geographic, «The Uncanny Valley and AI», 29.09.2023, https://www.nationalgeographic.com/science/article/ai-uncanny-valley, 22.03.2025.

5 Vgl. Pedro Telles da Silveira, «Deep Nostalgia, historical distance and the uncanny of the past», Medium, 01.03.2021, https://doca-silveira.medium.com/deep-nostalgia-historical-distance-and-the-uncanny-of-the-past-5dd2ab6e9a6a, 22.03.2025.

6 Guido Melo, «AI erasure – how AI could reshape our understanding of history and identity», ArtsHub, 06.01.2025, https://www.artshub.com.au/news/opinions-analysis/ai-erasure-how-ai-could-reshape-our-understanding-of-history-and-identity-2768755/, 22.03.2025.

7 Vgl. Jordi Pérez Colomé, «The rise of AI videos in politics: From deepfakes to viral, lowbrow humor», 10.03.2025, https://english.elpais.com/technology/2025-03-10/the-rise-of-ai-videos-in-politics-from-deepfakes-to-viral-lowbrow-humor.html, 22.03.2025.

8 Stephanie Harlow, «How are Gen Z and millennials driving nostalgia?”, https://www.gwi.com/blog/nostalgia-trend, 22.03.2025.

9 Emina Mujagić, «Warum wählen viele junge Menschen die AfD?», 03.09.2024, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/afd-junge-waehler-gruende-thueringen-sachsen-generationenforscher-100.html, 22.03.2025.

10 Roland Meyer zeigt in seinem Artikel «Echte Emotionen. Generative KI und rechte Weltbilder» auf, dass wer in der KI Dall-E um «A picture of a professor» bittet, in der Mehrheit das Bild eines weissen Mannes mit Bart geliefert bekommt. Das liesse sich auch auf der Seite biastest.ch testen.

11 Roland Meyer, «Echte Emotionen. Generative KI und rechte Weltbilder», 02.02.2025, https://geschichtedergegenwart.ch/echte-emotionen-generative-ki-und-rechte-weltbilder/, 22.03.2025.

24. März 2025

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