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Über Selbstmord denken, reden, schreiben

Es gibt wenige gesellschaftliche Phänomene, die gleichzeitig so schwelend sind und dennoch so konsequent totgeschwiegen werden wie der Selbstmord. Das ist nicht weniger tragisch als der Freitod selbst. Dabei zeigt ein Blick in die Kunst: Es war nicht immer so.

Von Lothar J. Lechner Bazzanella

Wer in der Nachrichtenlandschaft sein Geld verdient, weiss, wie man über Selbstmord-Meldungen schreibt: Gar nicht. Sie finden in der Berichterstattung nicht statt. Artikel darüber würden Nachahmerinnen und Nachahmer beschwören, denselben fatalen Schritt ins Nichts zu gehen. Selbst in Todesanzeigen wählt man lieber blumige Umschreibungen. Oder lässt die Todesursache komplett aussen vor. Fazit: Würde man sich allein an der Medienwelt – die doch über alles Wichtige schreiben müsste – orientieren, man könnte glauben, das Thema Selbstmord existiere nicht.

Ziemlicher Bullshit. Der Suizid war, ist und bleibt allgegenwärtig. Allein im Kanton Zürich nehmen sich im Jahr knapp 180 Personen das Leben (Suizidprävention Zürich). Das ist ein geglückter Selbstmord alle zwei Tage. Weitaus höher dürfte die Zahl der Selbstmordversuche sein, die nicht mit dem Tod enden. Meine Frage also: Wieso geben wir dem Thema nicht deutlich mehr Raum? Nicht den Raum, den es tatsächlich verdient?

Dabei scheint das Totschweigen des freiwilligen Toten eher ein Phänomen unserer Zeit zu sein, in der man zarte Seelen nicht mit noch schwereren Nachrichten betrüben will. Und vergisst dabei offenbar, dass der Selbstmord schon seit Jahrhunderten die grossen Denkenden beschäftigt und Stoff für Meisterbücher, Hits und Filmklassiker lieferte.

Aber mit der Ruhe. Kein Text über Selbstmord und die Wirkung der Berichterstattung über ebenjenen kann beginnen, ohne über «Die Leiden des jungen Werthers» von Goethe zu sprechen. Im Briefroman klagt der Rechtspraktikant über die unglückliche Liebesbeziehung zu der mit einem anderen Mann verlobten Lotte. Um Mitternacht vor Heiligabend schiesst sich Werther dann mit einer ausgeliehenen Pistole in den Kopf. Puff. Ende vom Lied.

Mit der tragischen Figur nahm die Diskussion über medial-vermittelte Nachahmungs-Suizide an Fahrt auf. Entstanden war der Werther-Effekt. Er würde andere zum Griff zur Pistole bewegen. Werke wie solche gehörten aus den Bibliotheken verbannt. 

Welch ein Unsinn! Wer verneint, dass es zum Leben gehört, wenn Menschen im Glauben der Ausweglosigkeit Suizid begehen, verneint damit auch die furiose Wirkung der Gefühle, die den oder die Leidende ursprünglich zur blutigen Tat getrieben hatten. Gefühle und Gedanken, die aber unser aller Leben nicht nur belasten, sondern auch so besonders, so spannend, so tragisch, so menschlich machen. Die hoffnungslose Liebe, das ewige Bangen, Hadern, Verzweifeln am Menschsein. Wie Werther schreibt: «Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den grössten Teil der Zeit, um zu leben, und das bisschen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden. O Bestimmung des Menschen!» 

Ähnlich sieht dies auch der französische Philosoph Albert Camus. Er schreibt: «Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht.» In seinem Meisterwerk «Mythos des Sisyphos» widmet er sich ein ganzes Kapitel lang der Frage, wieso sich denn jeder Mensch nicht sofort umbringen sollte. Schliesslich sei unser Leben vor allem eins: absurd. Camus argumentiert pragmatisch-elegant, dass gerade hier der Reiz des Lebens liegen würde. Da es doch so absurd ist, könnten wir es voll auskosten – ohne Ängste, Sorgen, Gedanken an eine mögliche Welt danach. Es ist «das Abenteuer aller».

Und die Liste solcher erhabenen Beispiele von Schreiben und Grübeln über den Freitod liesse sich lange fortziehen. Stichwort «Werther», Stichwort «Briefroman». Angelehnt an Goethes Jahrhundertwerk hat auch der italienische Author Ugo Foscolo eine tragische Figur erschaffen. In «Le ultime parole di Jacoppo Ortis» weiss die Leserschaft von Anfang an, dass die Hauptperson sterben wird. Zu gross ihr Weltschmerz über die Politik, die nationale Schmach der Heimat, die sinnlose Liebe zu Teresa. Als Jacopo von Teresas Heirat erfährt, erdolcht er sich. «Wer niemals gelitten hat, verdient auch kein Glück», schreibt Foscolo. Und schuf damit den ersten wirklichen Roman der italienischen Literatur. Mit einem Selbstmörder in seiner Mitte.

Sprung zur Musik. Egal ob 90er Rockbands wie Blink 182 mit «Adams Song»: «I’d never thought I die alone, another six months I’ll be unknown.» Oder R.E.M mit «Everybody hurts»: «Sometimes everything is wrong» und «If you think you’ve had too much of this life, well, hang on.» Oder «Paint it black» von den Rolling Stones: «I look inside myself and see my heart is black.» Und schliesslich Queen mit «Don’t try suicide».

Sprung zum Film. Und zum ewig-tragischen «Club der toten Dichter». Auch hier die Frage nach dem Sinn des Seins. Des Schmerzes. Um Professor Keating zu zitieren, der Walt Whitmann zitiert und auf Englisch, weil sonst Pathos auf der Strecke bleiben könnte:

«O me! O life! of the questions of these recurring,
of the endless trains of the faithless,
of cities fill’d with the foolish –
What good amid these, O me, O life?

Answer:

That you are here – that life exists and identity,
That the powerful play goes on, and you may contribute a verse.»

Die Szene, in der Keating die Verse zitiert – grandios gespielt von Robin Williams, der sich selbst – doch eigentlich immer lachend – Jahre später das Leben nahm – ist allerhöchste Filmkunst. Letztere endet damit, dass einer der Schüler sich nachts mit dem Revolver des Vaters erschiesst.

Da muss sich die Frage auftun, wo auf dem Weg wir uns bewusst oder unbewusst dazu entschieden haben, das Thema Selbstmord nicht mehr abhandeln zu wollen. Es in leise Zimmer zu sperren, darüber nicht zu schreiben, zu sprechen, zu urteilen. Zu helfen. Mehr Leichtigkeit wäre hier angebracht, sie würde die Furcht vertreiben.

Eine Leichtigkeit, die der Autor Erich Kästner wie kein Zweiter lebte. In seinem «Fabian» gelingt es ihm, die ganze Tragik des Seins weich und schmackhaft – wie in Zuckerwatte gehüllt – zu verpacken. «Zum Selbstmord neige ich nicht, denn ich verspüre nichts von jenem Tatendrang, der andere nötigt, so lange mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, bis der Kopf nachgibt», heisst es dort. Schliesslich nimmt sich der beste Freund der Hauptfigur das Leben.

Also, wenn schon die «Grossen» mit dem grossen Thema Selbstmord haderten, oft verzweifelten, dann dürfen wir Normalsterblichen erst recht ab und an mal das Leben nicht verstehen. Nicht klarkommen. Wir müssen darüber sprechen dürfen. Ein Problem nicht beim Namen zu nennen, hat es erst selten gelöst. Und für alle die hadern, hier – in Fragmenten und so brutal leicht – noch einmal Kästner:

«Diesen Rat will ich Dir geben:
Wenn Du zur Pistole greifst
und den Kopf hinhältst und kneifst,
kannst Du was von mir erleben.

Weisst wohl wieder mal geläufig,
was die Professoren lehren?
Dass die Guten selten wären
und die Schweinehunde häufig?

Ist die Walze wieder dran,
dass es Arme gibt und Reiche?
Mensch, ich böte Deiner Leiche
Noch im Sarge Prügel an!

Man ist da. Und man bleibt hier!
Möchtest wohl mit Püppchen spielen?
Hast Du wirklich Lust zum Zielen,
ziele bitte nicht nach Dir!

Ja, die Bösen und Beschränkten
sind die Meisten und die Stärkern.
Aber spiel nicht den Gekränkten.
Bleib am Leben, sie zu ärgern!»

20. September 2022

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