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Von kleinen und grossen Lügen

Ein Mensch lügt mehrmals am Tag. Männer häufiger als Frauen. Manchmal aus Scham, manchmal aus Schutz, manchmal aus Blödheit – die Gründe fürs Lügen sind ebenso unterschiedlich wie die Lügen selbst.

Von Leila Alder

Als ich klein war, erzählte ich all meinen Freund:innen, dass mein Vater ein Indianer sei. Mein Vater wurde zwar in New Mexico geboren, ist jedoch Schweizer, heisst Ruedi und hat bis auf sein dunkles Haar wirklich nur sehr wenig von einem indigenen Amerikaner. An meinem ersten Schultag flog ich dann auf, weil mein Papi gegen Erwartens meiner Mitschüler:innen weder Federkopfschmuck noch Zöpfe trug.

Ich hatte schon immer eine blühende Fantasie und erzählte gerne Geschichten. Indianer fand ich ebenfalls ganz nice und so kam dann wohl diese Lüge zu Stande.

«Du sollst nicht lügen» – eines der Zehn Gebote. Ich bin zwar nicht religiös aufgewachsen, aber dieses Gebot trichterte mir mein Mami tagtäglich ein. «Ihr könnt mir alles sagen, auch wenn ihr richtig Scheisse gebaut habt. Aber lügt mich nie an». Diese Worte führten dazu, dass ich einen wahnsinnigen Respekt vor Lügen entwickelte und mich jeweils am Tag des Schwimmwettkampfs – worst day of my life – richtig beschissen fühlte, weil ich mich zwischen «Fiebermesser unters heisse Wasser halten» und, Mami hintergehen» oder «mich vor der ganzen Schule blamieren, weil ich nur ganz grausam schlecht und langsam schwimmen konnten» entscheiden musste.

Auf jeden Fall bin ich durch meine Mutter zu einer extrem schlechten Lügnerin geworden. Gut so, denke ich. Aber warum lügen wir überhaupt und was bringt es uns?

Lügen entstehen aus persönlichem Interesse. Um besser dazustehen, etwas zu vertuschen, etwas oder jemandem aus dem Weg zu gehen. So kann man Geschichten ausschmücken, Details auslassen, Dinge erfinden oder eine Sache einfach ganz zufällig vergessen. Dass wir überhaupt von einer Lüge sprechen können, müssen wir eine Lüge zuerst genau definieren. Die folgende Erläuterung lässt ausser Acht, dass Mensch auch sich selbst anlügen kann.

Die Definition enthält drei Merkmale: 1. Es werden bewusst unwahre Zusammenhänge behauptet. Die Bedingung des bewussten Entschlusses bedeutet, dass der Handelnde immer die Möglichkeit der Entscheidung zwischen Wahrheit und Lüge hat. 2. Es gibt für Sender und Empfänger eine relevante, eindeutig klärbare Differenz zwischen nachvollziehbaren Sachverhalten und deren Darstellung durch den Lügner. 3. Es ist entscheidend, dass der Empfänger der Lüge vorher keine Ankündigung des Lügners erhalten und kein Einverständnis gegeben hat.

Wie diese Definition offenbart, braucht Mensch ein Gegenüber, um lügen zu können. Also ein Opfer, das manipuliert werden kann. Denn im Kern ist eine Lüge nichts anderes, als die Manipulation des Gegenübers für die eigenen Nutzen – meistens. Die Lügen werden nämlich in zwei verschiende Formen eingeteilt: Wenn der Belogene von der Unwahrheit profitiert, nicht aber der Lügner, spricht man von einer weissen Lüge. Als schwarze Lüge bezeichnet man, wenn etwas zu Lasten der Belogenen in betrügerischer Absicht geschieht. 

Doch auch der «Täter» bleibt nicht verschont. Während des Lügens wird das Gehirn so sehr gefordert, dass andere Prozesse blockiert werden und körperliche Reaktionen ausgelöst werden – je untrainierter der/die Lügner:in ist, umso stärker ist die Reaktion. Obendrauf bedarf das Lügen nebst Skrupellosigkeit einer krassen sozialen Intelligenz: Man muss die Fähigkeit besitzen, den sozialen Kontext differenziert analysieren zu können und vorauszuberechnen, wie das Opfer der Lüge die Situation erlebt und aufnimmt. Weiterhin ist eine beachtliche Merkfähigkeit erforderlich, weil Nachfragen des Gegenübers zu erwarten sind und Widersprüche so gut es geht vermieden werden müssen, da sie immer der Anfang des Auffliegens sind. Zusätzlich sollte man auch noch ein bisschen Schauspieler:in sein: Es muss ein hoher Aufwand betrieben werden, damit man sich nicht beim Vorgang des Lügens durch unpassende Tonlage, Sprechpausen oder ungewohnte Mimik und Gestik verrät.

Verdammt viel Aufwand also hinter dem Gegaukel. Und trotzdem sollen wir Menschen mehrmals täglich lügen. Womöglich weil der Druck unserer Geselleschaft gerecht zu werden zu hoch ist, vielleicht weil der Druck ein guter Mensch zu sein zu hoch ist, vielleicht weil die Erwartungen an uns selbst zu hoch sind. Und vielleicht, weil wir bereits so gefangen sind in diesen von uns gesponnenen Netzen von Unwahrheiten, dass wir sie nicht einmal mehr bemerken – sie uns sogar selbst glauben.

Könnten unsere Psychen, unsere Beziehungen und unsere Gesellschaft die nackte unverfälschte Wahrheit überhaupt noch ertragen? Womöglich nicht.

15. August 2021

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