Eine kurvige Strasse führt durch die üppigen Waadtländer Weinberge, dahinter der glitzernde, von Schiffswogen durchzogene Lac Léman und am Horizont der Mont Blanc mit seinem immer weissen Bergkamm. Eine märchenhafte Szenerie – wäre da nicht Noah, der auf seinem giftgrünen Velo halsbrecherische Tricks reisst, gefährlich nahe um fahrende Autos und Busse herumschlängelt, dafür laute Huper kassiert und sich wenig später mit seinen Freunden am See einen überlangen Joint gönnt. Diesen Lifestyle nennt Noah «la Bike life». Die Subkultur ist in den 2000ern in kalifornischen Ghettos entstanden. Es geht darum, auf BMX-Velos oder Mountainbikes Wheelies, Slides und andere Kunststücke im urbanen Raum zu vollführen – was Noah auf der Strasse und an Competitions furchtlos tut.
Während 69 Minuten erhalten die Zuschauer*innen in «Toute ma vie» Einblick in einzelne Abschnitte von Noahs Teenagerjahren zwischen 14 und 16. Man begleitet ihn ins Jugendheim, zu Gerichts- und Sozialarbeitsterminen, in die Jugendstrafanstalt und nachhause zu seiner Familie, seiner jüngeren Schwester Léa und seiner Mama Séverine. Messerscharf analysiert die kleine Schwester die Brüche in der Familie und die Gefühle der Mutter und des älteren Bruders. Während letzterer auf die Fragen der Mutter, des Regisseurs, der Sozialarbeiter*innen, warum er dieses oder jenes getan hat, nur mit einem abwesenden «Chais pas», ich weiss nicht, antwortet. Die Mutter Sévérine managt die Situation von aussen gesehen mit grosser Transparenz und Persistenz. Was trotz dieses scheinbar stabilen Umfelds passiert ist, damit Noah, seit er sechs Jahre alt war, immer wieder in Heime musste, legt der junge Regisseur Matias Carlier in seinem ersten Langfilm nicht offen. Léa erklärt der Kamera nur, dass ihr Bruder als Kind mit seinem Vater Probleme hatte und jetzt «abîmé», beschädigt ist.
Denn Matias Carlier geht es nicht darum, Noahs Leben offenzulegen, sondern vielmehr, ihn ein Stück auf seinem Lebensweg zu begleiten. Das ist ihm in diesem feinfühligen Porträt sehr gut gelungen. Wie Carlier im Q&A erzählt, lag der Fokus für ihn auf der zwischenmenschlichen Connection. Er führte mit allen Beteiligten lange Gespräche off-camera und wurde zu einem engen Freund von Noah und seiner Familie. Der junge Protagonist durfte mitbestimmen, was gefilmt wird und was nicht.
Die Kamera ist immer nahe am Gesicht des Protagonisten. Man lacht, wenn er in die Kamera grinst, und hält den Atem an, wenn er vor seiner Schwester ausrastet. Manchmal ist das Bild verwackelt, weswegen einige Details untergehen. Aber auch diese Momente passen gut zum ungestümen Vibe des Films. Und am Ende zeigt sich, dass der Film grösser als Noahs Geschichte ist. Es ist der Versuch, die Zweifel, die Wut und die Hoffnungen einer Generation zu verstehen. Und eine filmische Auseinandersetzung damit, wie eine Gesellschaft diejenigen, die nicht in ihre Schubladen passen, begleiten kann.
Sehr berührend ist der Moment, als Noah in der S-Bahn zu weinen beginnt, weil er keinen Ort zum Schlafen hat. Also lädt der Regisseur ihn kurzerhand zu sich nachhause ein – etwas, was mit den klassischen Nähe-Distanz-Regeln zwischen Protagonist und Regisseur im Dokfilm bricht. Sehr ehrlich also, dass Carlier den Moment in den Film integriert hat. Mit der Handycam filmen die beiden wacklig, wie sie Zitronenpasta kochen, und fast könnte man meinen, Carlier wäre Noahs grosser Bruder.
In der letzten Szene zeigt sich die Zusammenarbeit zwischen Noah und dem Regisseur nochmal sehr schön. Als Carlier dem veloflickenden Noah sagt, dass er glaubt, am Ende des Films angekommen zu sein, erwidert Noah: «Ich habe keine Lust, aufzuhören, es war zu nice. Der beste Teil meines Lebens: das Bike Life. Ich würde bis zu meinem Tod weiterfilmen, dann könntest du den Film an meiner Beerdigung auf dem Friedhof zeigen.» Verschmitzt grinst der Teenie in die Kamera. Die Kette seines Fahrrads läuft wieder rund. Ob das eine Analogie zu seinem Leben ist? Sicher ist, sein Umfeld, der Regisseur und die Zuschauer*innen wünschen es ihm.
Toute ma vie feierte am 5. April 2025 am Dokumentarfilmfestival «Visions du Réel» in Nyon Weltpremiere. Der Film wurde über drei Jahre zwischen Lausanne und Genf gedreht und ist ausgewählt für den Nationalen Wettbewerb des Visions du Réel. Sprache: Französisch mit englischen Untertiteln, 69 min.
30. April 2025