Zuerst müssen wir zwei Ängste klar unterscheiden: die Angst vor dem Tod und die Angst vor dem Sterben. Das Sterben ist ein Prozess, der Tod das Resultat. Der Tod ist das, was nach dem Sterben kommt. Jedoch hat die Unsicherheit darüber, was nach unserem Tod passiert, nichts mit dem Sterbeprozess zu tun.
Viel zu selten setzen wir uns mit dem Tod auseinander, vielleicht aus Eigenschutz. Der Tod betrifft uns meistens dann, wenn wir überraschenderweise mit ihm in Berührung kommen. Geht es uns und unseren Liebsten gut, gibt es keinen Anlass, sich gross Gedanken darüber zu machen. Wahrscheinlich ist genau das der Grund, wieso uns der Tod in westlichen Kulturkreisen so aus der Fassung bringt.
Wer sich aktiv mit dem Tod auseinandersetzt, ob mit dem eigenen oder dem von Angehörigen, sieht sich früher oder später mit Fragen und Schmerz konfrontiert. Wie werden meine Angehörigen mit meinem Tod umgehen? Was, wenn ich nicht alles erreichen konnte, was ich mir vorgenommen habe? Was passiert nach dem Tod?
Auch die pragmatischeren Fragen werden zu selten schon vor dem eigenen Tod gestellt: Wie möchte ich beigesetzt werden? Wo soll meine Beerdigung stattfinden? Ist mein Erbe geregelt? Möchte ich meine Organe spenden? Wir beschäftigen uns im säkularen Westen selten mit diesen Fragen. Grund dafür ist oft Angst.
Selbstverständlich ist diese Angst nicht unbegründet. Die menschliche Arroganz, auf alles eine Antwort haben zu wollen, führt dazu, dass wir mit Unklarheiten weder konfrontiert werden noch umgehen möchten.
In religiösen Kreisen ist das anders. Da der Umgang mit dem Tod zu Lebzeiten präsenter ist, ist der Umgang danach erleichtert. Nicht «leicht», denn der Tod ist für die Wenigsten etwas Einfaches.
Beispielsweise im Islam, wo das Leben sowohl als auch das Sterben und der Tod eine Prüfung Gottes, und nicht das «Ende» darstellen. Vielmehr ist der Tod die Heimkehr zu Gott. Dieser Glaube kann den Schmerz über den Tod unglaublich erleichtern.
Oder im Buddhismus, wo der Tod als Schlüssel zur Befreiung gilt. Während die meisten im Tod das Ende sehen, ist er im Buddhismus der Anfang.
Nur wenige nicht-religiöse oder nicht-spirituelle Personen werden diese Haltung zum Tod haben. Die Meisten werden wahrscheinlich gar keine Haltung zum Tod aufzeigen können. Das würde nämlich eine Konfrontation mit unserer Angst bedeuten.
Zugleich ist die Angst vor dem Sterben auch oft das, was uns am Leben hält. Diesen Urinstinkt, Leben zu wollen, spüren wir oft in Situationen, in denen der Tod nahe scheint. Dieser Mechanismus ist nicht nur auf den Körper übertragbar, sondern auch auf unsere Psyche: Wer Angst vor dem Tod verspürt, wird mehr Leben wollen. Dieser Zusammenhang zeigt sich oft bei suizidalen Personen: Der Tod wirkt plötzlich nicht mehr so beängstigend, sondern erlösend.
Wie so oft gibt es keine Faustregel, wie mit der Angst vor dem Tod umzugehen ist. Es gibt auch kein Richtig oder Falsch. Wer einen plötzlichen Tod im eigenen Kreis erlebt hat, weiss, wie einschneidend das ist. Viele haben sich damit abgefunden, dass wir uns auf den Tod nicht vorbereiten können. Das mag stimmen, der Tod tritt oft unerwartet ein, aber wir können trotzdem gewisse Vorkehrungen treffen, um unsere Angehörigen vor dem absoluten Schockzustand zu schützen. Beispielsweise unsere Wünsche zu Beisetzung und Abdankung frühzeitig zu kommunizieren. Gespräche und Gedankenspiele über den Tod, darüber, was uns davor und danach wichtig ist. So helfen wir uns, wie auch den Menschen in unserem nahen Umfeld. All das verhindert die emotionale Belastung eines Todes nicht. Aber die frühzeitige Konfrontation kann uns vielleicht einige Ängste nehmen.
07. November 2022